Schattenspäher
leid wegen des Leinentuchwickels, aber Ihr habt ständig an der Wunde gekratzt und sie immer wieder aufgerissen. Der Kapitän meint, das Ganze muss von einem Chirurgen ordentlich vernäht werden, wenn wir wieder in Mag Mell sind, oder Ihr werdet Wundbrand kriegen.«
»Na großartig.«
Eisenfuß löste den Gürtel, mit dem der Leinenwickel an Ort und Stelle gehalten wurde und entfernte die äußere Lage. Darunter kam ein Gewirr aus blutdurchtränkten Verbänden zum Vorschein, das doch keinen Zweifel an einer bestimmten Sache ließ.
»Bei Auberons Eiern!«, rief Eisenfuß aus. »Eure Hand ist nachgewachsen!«
Silberdun zog die letzten Bandagen fort und hielt die Hand in die Höhe. Da war sie wieder, und so gut wie neu. Er streckte die Finger, bewegte den Daumen; alles funktionierte einwandfrei. Auch spürte er kein Stechen, Ziehen oder gar Schmerzen.
»Netter Trick!« Eisenfuß riss die Augen auf. »Wie habt Ihr das bloß angestellt?«
Silberdun kniff fest in die Haut seiner neuen Hand, freute sich unendlich über den Schmerz. »Ich hab keine Ahnung.«
Er legte sich auf die Planken und griff ins kalte Wasser, spülte sich das Blut von der Hand. Als er sie abermals in die Höhe hielt, war es, als wäre nichts geschehen.
»Schaut Euch das an«, sagte er zu Eisenfuß. »Sehr Ihr die Narbe auf meinem Handballen? Die hab ich, seit ich als Kind mal von einer Mauer gefallen bin.«
»Ja, ich sehe sie.«
»Gehen wir für den Moment davon aus, dass es möglich ist, eine abgeschlagene Hand nachwachsen zu lassen«, überlegte Silberdun. »Wie aber lässt man eine alte Narbe wieder ... nachwachsen?«
»Mir fällt keine wissenschaftliche Erklärung dafür ein.«
Das Boot fuhr auf dem Fluss südwärts Richtung Glaum, einem Goldgräberzentrum. In der Kluft von Minenarbeitern gingen Silberdun und Eisenfuß an Bord eines Frachtkahns. Der lag in einer Wasserschleuse, die den Fluss mit einem Hafen in Mag Mell verband. Von dort war die Insel Cureid per Segelschiff in nur wenigen Tagen erreicht.
Falls der Seelie-Botschafter überrascht war, sie zu sehen, so ließ er es sich nicht anmerken. Entweder hatte er sie doch nicht an die Annwni verraten, oder er war ein exzellenter Schauspieler. Aranquet servierte ihnen Schellfisch und Likör und nahm sie sodann als Ehrengäste mit zu einem Wasserballett, das in der Lagune des Atolls aufgeführt wurde. Die männlichen und weiblichen Tänzer vollführten dabei einen komplexen und äußerst stilisierten Reigen, der teilweise über und teilweise unter Wasser stattfand. Die weiblichen Zuschauer verfolgten die Darstellung unter der Wasseroberfläche. Aranquet erklärte seinen Gästen im Flüsterton, dass eigentlich zwei Ballette gleichzeitig aufgeführt wurden: der Tanz über und der Tanz unter Wasser, und dass jedem von ihnen seine eigene geheime Bedeutung innewohne, die allein die Götter kennen.
Silberdun versuchte sich auf die Darbietung zu konzentrieren, doch alles, woran er denken konnte, war seine Hand.
19. KAPITEL
Einmal beschwerte sich ein chthonischer Priester über die zu hohe Grundsteuer. Ich sagte ihm, dass jedermann auf meinem Land diese Steuer zahlen müsse.
Er wandte ein, diese Regel beträfe ganz gewiss nicht jedermann, da ich ja offensichtlich von ihr ausgenommen sei.
Ich verdoppelte seine Steuer.
Er hat sich nie wieder beschwert.
- Lord Grau, Erinnerungen
Als Silberdun und Eisenfuß in Smaragdstadt eintrafen, war es tief in der Nacht. Und das, obwohl es in Mag Mell, das sie vor wenigen Sekunden verlassen hatten, erst Mittag gewesen war. Die Zeitverschiebung war verwirrend, doch Silberdun freute sich auch, wieder zurück in den Faelanden zu sein. Die Luft hier war einfach sauberer, klarer, und er fühlte sich auch leichter auf den Füßen, nachdem er aus dem Portal getreten war.
Sie traten hinaus auf die Straße, die sie in die Stadt führte, und atmeten tief durch.
»Da sind wir«, sagte Eisenfuß.
»Ja, tatsächlich«, erwiderte Silberdun.
»Mir scheint, es ist kurz nach zwei Uhr morgens. Ich kann trotzdem nicht behaupten, sonderlich müde zu sein.«
»Ich auch nicht«, sagte Silberdun. »Und ich mag auch nicht bis morgen Früh warten, um mit Paet zu sprechen.«
»Das sehe ich genauso. Lasst uns unser Gepäck in Haus Schwarzenstein abladen, und dann schmeißen wir Paet aus seinem Bett.«
»Beste Idee des Tages.«
Der Plan wurde ihnen allerdings dadurch vereitelt, dass Paet schon im Hauptbüro von Schwarzenstein auf sie wartete. Der Anführer wirkte
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