Schattenspäher
Ohren gekommen wäre, hätte Wenathns unrühmliche Rolle in diesem Schauspiel ihn mit Sicherheit das Amt gekostet. Andererseits konnte er die beiden Seelie-Spione auch nicht einfach laufen lassen, ohne das Büro des Prokonsuls misstrauisch zu machen. Die dritte Möglichkeit bestand darin, dass den Gefangenen die Flucht gelang. Allerdings nicht, solange sie Wenathns Verantwortung unterstanden. Nein, dies musste unter Aufsicht von Unseelie-Soldaten geschehen. Auf diese Weise hatte Wenathn seine Pflicht als braver Diener der Besatzer Genüge getan, wohingegen die Unseelie am Ende die Dummen waren.
»Ich frage mich«, fuhr Eisenfuß fort, »ob das alles nicht auffliegt, wenn die Unseelie unsere Flucht untersuchen?«
»Das würde es, sofern es eine Untersuchung gäbe. Doch die Unseelie würden sich wohl kaum die Blöße geben, zuzugeben, dass sie zwei Spione haben entwischen lassen, und deshalb werden sie das tun, was alle rückgratlosen Bürokraten in so einem Fall tun.«
»Sie kehren die Angelegenheit unter den Tisch.«
»Genau. Als wäre es nie geschehen. Dazu ist Wenathn jetzt auch noch unser guter Freund in Annwn, ein Mann, der ganz offensichtlich kein glühender Anhänger der Unseelie ist und den man leicht beeinflussen kann, wenn man ihm bei seiner Wiederwahl hilft.«
Eisenfuß pfiff durch die Zähne. »Ihr seid mir vielleicht ein ausgefuchster Hurensohn, Silberdun, das muss Euch der Neid lassen.«
»Davon abgesehen, dass meine Mutter keine Hure war, mögt Ihr Recht haben.«
»Gut, gut, ich schätze, dann war unsere Mission doch noch von Erfolg gekrönt.«
Silberdun seufzte. »Ich denke, meine rechte Hand wäre da anderer Ansicht.«
Die Zeit auf dem Fluss kroch dahin. Als die Stadt einmal hinter ihnen lag, konnten Silberdun und Eisenfuß an Deck und sich an Bord der Magl frei bewegen. Hier war zwar die Luft besser, doch die Aussicht ließ einiges zu wünschen übrig. Außerhalb der Stadtmauern bestand Annwn aus nichts weiter als endlosen Grasebenen. Nicht ein einziger Baum, kein Strauch unterbrach die eintönige Weite. Gelegentlich sahen sie Tiere, die zum Fluss kamen, um zu trinken, doch davon abgesehen geschah nicht viel. Sie nahmen ihre Mahlzeiten mit der Schiffsbesatzung ein, einem wortkargen Haufen.
Am zweiten Tag ihrer Reise begann Silberdun, sich mies zu fühlen; auch spürte er ein Stechen in seinem Armstumpf. Am Abend musste er sich übergeben und hatte Schweißausbrüche; und immer, wenn das Schiff sich stärker auf dem Wasser bewegte, stöhnte er.
Am Morgen des dritten Tages war er zeitweise im Fieberwahn und erinnerte sich nur noch bruchstückhaft an irgendwelche Ereignisse aus seiner Vergangenheit. Alles, was er spürte, war diese Übelkeit, das Stechen in seinem Arm und das Heben und Senken des Schiffs. Er wollte so sehr an seinem Stumpf kratzen, doch Eisenfuß hielt ihn jedes Mal davon ab. Warum hielt er ihn davon ab? In einem seiner wacheren Moment starrte Silberdun auf seine Hand, sah, dass sie blutüberströmt war. »Hör auf damit!«, drang von irgendwo Eisenfuß' Stimme an sein Ohr. Silberdun spürte, wie etwas um seinen Arm gebunden wurde, etwas Festes, Schweres. Als er wieder an seinem Handgelenk kratzen wollte, war es nicht mehr da. Stattdessen griff er in eine Lage schweren Stoffs. Sein ganzer Körper brannte, schüttelte sich, kribbelte.
Als er am vierten Morgen erwachte, fühlte er sich zwar benommen, doch das Fieber war weg. Er war draußen, und die Sonne stach ihm in die Augen. Als er nach seinem rechten Arm sah, stellte er fest, dass man ihn in ein Stück Segeltuch eingeschlagen und hochgebunden hatte, damit er nicht daran kratzen konnte. Der Schmerz und das Stechen waren fort, doch er spürte noch immer seine nicht mehr vorhandene Hand unter dem Stoff. Das Gefühl war erstaunlich real.
Er lag auf dem Vorderdeck, seine Kleider waren schweißgetränkt. Es ging ein kühler Wind auf dem Wasser, und Silberdun genoss die Brise.
»Endlich seid Ihr wieder wach.« Eisenfuß brachte Silberdun eine kleine Tasse Wasser und etwas Stockfisch. Silberdun aß und trank, zögerlich erst, dann gieriger.
»Mehr Wasser, bitte.« Er hielt Eisenfuß die Tasse hin, die dieser noch mal auffüllte.
»Wie geht es Euch?«, fragte Eisenfuß. »Der Kapitän dachte schon, Ihr schafft es nicht.«
»Unterschätzt mich nicht.« Silberdun stand langsam auf. »Wir Lords Silberdun sind aus einem ganz besonderen Holz. Kaum totzukriegen.«
»Ich muss Euren Verband wechseln«, sagte Eisenfuß. »Tut mir
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