Schattenspäher
die Mutter ihm zum Studienabschluss geschenkt hatte.
Er nahm die Uhr zur Hand, drehte sie und las die Inschrift auf der Rückseite: »Für Timha, der noch Großes vollbringen wird.« Ja, sicher. Er stellte die Uhr behutsam an ihren Platz zurück und begann erneut zu weinen.
Er verließ den Palast und ging die knochenbleichen Stufen hinab zur Portal-Plattform. Mit jedem Schritt schweifte sein Blick über die gewaltige Stadt mit ihren schweigenden Spitzen und leeren Schatten, und er spürte, dass hinter all jenen verlassen wirkenden Fenstern ihn etwas beobachtete. Etwas Altes, Hungriges, dessen Zähne dieselbe Farbe besaßen wie die der Steine.
Die Portal-Plattform wurde von Elev und Phyto bewacht, die Timha nicht sonderlich gut kannte. Keiner von beiden galt als übermäßig streng. Aber das war nur ein schwacher Trost, immerhin gehörten sie zu Mabs Palastwachen - die Besten der Besten -, und das waren nun mal keine Idioten.
Elev nahm Timhas Reisedokumente entgegen, die ihm von Meister Valmin ausgestellt worden waren, und studierte sie sorgfältig.
»Tut mir leid wegen Eurer Mutter«, murmelte er und gab ihm die Papiere zurück. »Erstaunlich, dass sie Euch zur Beerdigung weglassen«, meinte er. »Was ist denn aus der Urlaubs- und Ausgangssperre geworden?«
»Na ja, Meister Valmin hat seinen Einfluss geltend gemacht«, sagte Timha. »Einer der Vorteile, wenn man ein treuer Diener ist.«
»Nicht schlecht«, erwiderte Elev.
Phyto griff nach Timhas Tasche und öffnete sie. Dann zog er jedes einzelne Kleidungsstück hervor und wedelte mit einem kleinen Lügenstab darüber hinweg. Der Stab sollte etwaiges Blendwerk aufheben, damit Timha nichts aus der Stadt herausschmuggelte.
Sorgfältig legte Phyto alles wieder an seinen Platz und verschloss die Tasche. Dann wandte er sich Timha selbst zu. Er begann bei den Füßen, tastete ihn zunächst mit den Händen ab, dann kam wieder der Lügenstab zum Einsatz, wobei er der Gürtelschnalle und der Fibel, die Timhas Robe des Reisenden zusammenhielt, besondere Aufmerksamkeit schenkte. Als Phytos Stab über Timhas Nacken fuhr, hob Timha eine Hand.
»Bitte«, sagte er mit flehendem Blick. »Nicht das Haar.«
»Kahlköpfig, was?«, grinste Phyto.
»Ja«, antwortete Timha, »und lebensechtes Blendwerk-Haar kostet in der Stadt doch ein Vermögen. Ich würde es nur ungern während einer Sicherheitskontrolle einbüßen.«
Phyto dachte darüber nach.
»Tut mir echt leid«, sagte er schließlich und fuhr mit dem Stab über Timhas Kopf. Timhas wunderschöne dichte Haarpracht verschwand und wich seinen natürlichen dünnen Strähnen. Er seufzte unmerklich auf; tatsächlich hatte er erwogen, die gestohlenen Dokument genau dort oben zu verstecken.
»Ah, deshalb also das Blendwerk«, sagte Elev mit Blick auf Timhas schütteres Haupt.
»Ja, schönen Dank auch«, schnarrte Timha. »Kann ich jetzt bitte gehen? Ich möchte meine Verbindung zur anderen Seite nicht verpassen, und es ist schon fast Hochsonne.«
»Geht«, sagte Elev; fast wirkte er ein bisschen schuldbewusst.
Timha kniete sich hin, um den Schnürsenkel seines Stiefels zuzubinden, den er zu Hause absichtlich nicht ganz festgezurrt hatte. Es hatte ihn kaum Mühe gekostet, ihn mittels der Gabe der Bewegung ganz zu lösen. Während er den Stiefel wieder schnürte, hob er den Kopf. Phyto und Elev stritten gerade darüber, wessen Schicht zur Hochsonne zu Ende ging. Die beiden nicht aus dem Blick lassend, griff Timha hinter sich und packte die Seilschlinge, die auf dem Boden lag. Er hatte sie mittels Blendwerk unsichtbar gemacht und ein paar Schritte vor den beiden Wachen zu Boden fallen lassen, damit Phytos Lügenstab sie nicht enttarnte.
Er wickelte sich das Seil um die Hüften, zog daran, und das Bündel mit den unsichtbaren Dokumenten, das daran befestigt war, schwebte auf einem Kissen reinster Bewegung auf ihn zu. Es war der gleiche Zaubertrick, den Timhas Vater, der Kahnführer, immer auf der Reißenden See angewendet hatte. Er nickte Phyto und Elev zu, als er durch das Tor trat und den Grund für eine mögliche Exekution wegen Hochverrats hinter sich herzog wie ein angeleintes Hündchen.
22. KAPITEL
Die fliegenden Städte der Unseelie sind ein unvergleichlicher Anblick, doch in Wahrheit entstanden sie aus reiner Notwendigkeit. Fortwährend wird das Land zu ihren Füßen durch Erdbeben erschüttert, und beinahe täglich klaffen neue große Risse in seiner Oberfläche. Mab und ihr Volk haben die Lüfte mithin nicht
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