Schattenspäher
offizielle Erklärung lautete schließlich, dass es sich dabei wohl um einen aus dem Ruder gelaufenen Raubüberfall handeln musste. Man hatte sogar einen Sündenbock gefunden und gehängt, danach wurde die Sache eingestellt. Zunftmeisterin Heron war zurückgetreten und zu Verwandten im Osten gezogen. Danach war auch eine weitere von Everess' Prophezeiungen eingetreten: Der Arkadier Lord Palial war vom Senat zu Herons Nachfolger bestimmt worden.
Sela wurde von Zeit zu Zeit auf ihre eigenen Missionen geschickt. Hierbei entlockte sie den zumeist männlichen Quellen alle möglichen und unmöglichen Informationen, welche die Schattenliga jedoch auch nicht weiterbrachten. Aufgrund von Paets fortwährenden Interventionen verübte sie allerdings keine Meuchelmorde mehr auf Seelie-Gebiet.
Wenn Sela nicht in eigener Sache unterwegs war, ignorierten sie und Silberdun sich ostentativ. Ihre Gefühle für ihn wurden indes immer stärker, und obwohl sie spürte, dass es ihm ähnlich ging, gab es doch eine unsichtbare Barriere, die sie voneinander trennte. Es war, als ob Silberdun selbst dafür Sorge trug, dass sie nie allein im selben Raum waren und nie über etwas anderes miteinander sprachen als über die Arbeit.
21. KAPITEL
Die Kynosuren sind Objekte mit bemerkenswerten thaumaturgischen Eigenschaften, doch da sie auch Gegenstände der Verehrung sind, untersagen die Chthoniker ihre Untersuchung. Zwölf von ihnen wurden im Zuge des Rauane Envedun-e erschaffen, aber es ist nicht bekannt, wie viele von ihnen noch existieren, da die chthonischen Priester sich weigern, darüber zu sprechen.
Die philosophische Bedeutung der Kynosuren ist mannigfaltig. Ihre Gesamtheit repräsentiert die Gesamtheit allen Geistes. Ihre Ausmaße, die Größe einer jeden Oberfläche, der Winkel eines jeden Scheitelpunkts, die Länge einer jeden Seite, beziehen sich allesamt auf die religiösen und thaumaturgischen Aspekte des jeweiligen Objekts. Wie ich im folgenden Kapitel ausführen werde, können beide als untrennbar bezeichnet werden.
- Prae Benesile, Thaumaturgische Geschichte der chthonischen Religion
Der Reisende Timha saß in Meister Valmins Studierzimmer und grübelte über einem Kapitel aus Beozhos Kommentaren. Es war ein schwieriger Absatz aus einem Werk, das ohnehin für seine Sperrigkeit berüchtigt war. Alpaurle selbst hatte es einmal die »Verrücktheiten eines überragenden, wenngleich im Niedergang begriffenen Geistes« bezeichnet. In den zurückliegenden Jahrhunderten hatten sich viele Gelehrte über den Wert und Nutzen dieses Werks den Kopf zerbrochen; für eine Abhandlung, welche die Thaumaturgie zum Thema hatte, fanden sich in ihr erstaunlich wenig Zauberanleitungen. Vielmehr stellten die Kommentare einen umfangreichen philosophischen Aufsatz dar, in dem vielfach Bezug genommen wurde auf Quellen, die im Laufe der Zeit verschollen waren, wenngleich Beozho vom geneigten Leser erwartete, dass dieser mit den zitierten Werken vertraut war. Zu diesen Sekundärquellen hatte Alpaurle angemerkt, dass »manche dieser Werke genial, andere pure Hirngespinste und wieder andere nichts als intellektuelle Selbstbefriedigungen« seien.
Das Kapitel, mit dem Timha sich gerade herumplagte, war nur eines von vielen, die rein gar nichts mit Thaumaturgie zu tun zu haben schienen. Allerdings wurde es gleich zwei Mal in den Notizen des Schwarzkünstlers Hy Pezho erwähnt, die dessen Baupläne kommentierten. Valmin hatte den Text zwei Mal gelesen und nichts von Interesse darin gefunden, und Timha las ihn nun ein weiteres Mal, einfach, weil ihm nichts Besseres mehr einfiel.
Seit dem Besuch der Bel Zheret wuchs die Panik unter den Verantwortlichen in der Arbeitsgruppe von Tag zu Tag. Dennoch hatte man beschlossen, den anderen Kollegen nichts von dem unaufhaltsam näher rückenden Stichtag zu sagen. Wozu auch? Jedem hier war die Dringlichkeit des Projekts nur allzu bewusst.
Timha erreichte das Ende der Seite und musste erkennen, dass er keinen blassen Schimmer hatte, worum es hier gerade ging. Er sprang zurück zum Kapitelanfang auf der Suche nach der Stelle, an der er beim Lesen den Faden verloren hatte, doch ohne Erfolg. Er musste drei Seiten zurückblättern, bis er den betreffenden Absatz fand.
»Die Trennung bindet uns«, stand hier. »Im Grunde sind Einteilungen ohne Bedeutung. Alle Gaben fließen. Unendlich. Unabänderlich. Wir leugnen die Unendlichkeit, leugnen, was uns ungesehen erscheint. Und daher tun wir, was zu sehen und zu beurteilen wir
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