Schattenspäher
gemeinsamen Abends fortgespült zu werden. Sie marschierten und kletterten unverdrossen weiter.
Gerade als Silberdun dachte, Timha würde völlig schlappmachen, hielt Je Wen auf dem Kamm einer Böschung plötzlich an. Es war wieder Mittag, und der Nieselregen war einem fahlen Sonnenlicht gewichen, das ihre Haut zwar leidlich erwärmte, ihnen aber nicht die Kälte aus den Knochen zu vertreiben vermochte.
»Dort«, sagte Je Wen. »Elenth.«
Silberdun folgte seinem Blick und entdeckte vor sich ein weites Tal. Vom Fuß der Berge, dort wo sie standen, erstreckten sich bestellte Äcker bis zu den Grenzen einer kleiner Stadt. Die wiederum kuschelte sich in den Schatten einer Hügelkette, die das Tal begrenzte. Die Ebene glitzerte im Sonnenlicht, und Silberdun konnte auf den Feldern Bauern erkennen und in der Ferne winzige Pferdefuhrwerke, die auf dem Weg nach Elenth waren. In diesem Moment fiel ihm auf, dass sie außer den Arami seit drei Tagen niemanden mehr gesehen hatten.
»Ah, die Zivilisation«, sagte er, obwohl er sich fast wünschte, noch eine Weile weiter durch die Wildnis zu ziehen.
»Ruhe!«, fuhr ihn Je Wen an. Es war das erste Mal, dass Silberdun ihn angespannt erlebte. Der Arami legte den Kopf zur Seite und lauschte angestrengt in die Stille.
»Was gibt's denn?«, fragte Timha.
»Ich sagte Ruhe!«, zischte Je Wen.
Alle standen stocksteif da. Silberdun warf einen Blick zu Eisenfuß, doch der zuckte nur die Achseln.
»Wir müssen weiter«, sagte Je Wen schließlich. »Schnell. Wir müssen von diesem Hügel runter.«
»Was ist denn los?«, fragte Eisenfuß.
»Es kommt ein Beben«, erwiderte Je Wen. »Ein großes.«
Silberdun sah sich gehetzt um. Sie standen auf einem schmalen Pass, der auf dem Hügelkamm durch zwei dicke Felsen hindurchführte. Überall lag Geröll. Der Weg nach unten war steil und steinig. Sie würden mit größter Vorsicht zu Tal steigen müssen.
»Los jetzt!«, brüllte Je Wen. Ohne sich umzublicken, lief er die Böschung hinab.
Eine Weile schien es, als habe sich Je Wen geirrt, denn nichts auf ihrem Weg den Hügel hinab schien sie daran zu hindern.
Mit einem Mal jedoch wurde Silberdun wie von Geisterhand ein Stück in die Höhe katapultiert. Er hörte ein Brüllen. Überall um ihn herum war plötzlich Staub. Irgendwo schrie Sela auf. Unter ihm grollte es, die Luft erzitterte. Silberduns Landung war alles andere als weich; heftig schlug er mit der Hüfte und den Schultern auf dem felsigen Untergrund auf. Der Schmerz war ungeheuerlich und durchfuhr ihn im Rhythmus des Bebens unter ihm.
Ein weiteres ohrenbetäubendes Brüllen wurde laut. Silberdun spürte eine Hand auf seine Schulter; ein Gesicht schob sich in sein Blickfeld. Je Wen griff nach ihm. »Spring zu mir rüber! Schnell!«
Silberdun blickte zu Boden, sah wie der Staub unter seinen Füßen aufgewirbelt wurde und im Nichts darunter verschwand. Er sprang zu Je Wen, landete unsicher auf einem schmalen Felsvorsprung, der unter seinem Gewicht nachgab, jedoch nicht abbrach.
»Wo sind wir?«, schrie er. »Wir müssen die anderen finden!«
»Hier lang«, schrie Je Wen zurück.
Es war Silberdun fast unmöglich, sich zu orientieren; jedes Mal, wenn er festen Untergrund erblickte, schien der im nächsten Moment verschwunden zu sein und ein paar Meter weiter wieder aufzutauchen. Je Wen schien damit kein Problem zu haben; mit schlafwandlerischer Sicherheit sprang er zu der Stelle, auf die der instabile Boden sich zubewegte und nicht dorthin, wo er gewesen war.
Wieder hörten sie Sela schreien, und Silberdun stolperte hastig vorwärts. Er erblickte ihr Haar, bevor er den Rest ihres Körpers ausmachen konnte: ein goldener Schweif in einem Mahlstrom aus Staub. Sie kauerte unter einem überhängenden Felsvorsprung, während um sie herum der Dreck aufgewirbelt wurde.
»Komm mit!« Je Wen griff nach Sela, zog sie zu sich, schob sie in Silberduns Arme und deutete in eine bestimmte Richtung. »Da lang!«
Je Wen machte einen Schritt voran; in diesem Moment wurde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen, und er fiel vornüber auf die Knie. In der nächsten Sekunde traf ein dicker Felsen mit einem hässlichen Geräusch auf seinen Oberkörper. Sela schrie auf, und Silberdun hätte es gern.
Je Wen war tot; sein Brustkorb völlig zerquetscht.
»Nichts wie weg hier!«, schrie Silberdun.
Vorsichtig bahnten sie sich ihren Weg an Je Wens Leiche vorbei zu einer sicheren, ebenen Stelle. Um sie herum gingen auch weiterhin Geröll und Dreck
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