Schattenspäher
anderen Seite wieder in den Wald ein. Als die Nacht hereinbrach, rasteten sie ohne Lagerfeuer, aßen Beeren und Nüsse und das letzte harte Brot aus der Villa.
Am nächsten Morgen setzten sie ihre Reise fort. Sie mussten gut vorangekommen sein, denn die Sonne stand noch immer über dem westlichen Horizont, als sie den Großen Wall erreichten. Eisenfuß saß ab und sah sich das Ding an. Der Wall war hauptsächlich eine einfache, niedrige Steinmauer, wenig beeindruckend, wiewohl auf seiner Oberfläche Runen prangten. Er schob die Hand in Richtung Mauer und spürte einen Widerstand, und je weiter er die Hand vorbewegte, umso größer wurde er. Irgendwann wurde der Widerstand sogar schmerzvoll. Rasch ließ er den Arm sinken. Hier war es definitiv nicht möglich, die Grenze zu übertreten.
Sie gingen am Großen Wall Richtung Südwesten, wo sie hoffentlich einen Grenzübergang finden würden, der nicht allzu überlaufen war. Eisenfuß hatte keine Ahnung, was sie tun sollten, wenn sie einen fanden, aber sie hatten keine andere Wahl. Mit jedem Schritt nach Südwesten kamen sie der zerstörten Stadt Selafae und auch Sylvan ein Stück näher.
Es dämmerte schon, als sie eine Gruppe Soldaten erreichten, die am Großen Wall stationiert waren. Es waren keine sonderlich aufmerksamen Soldaten, denn sie hatten die beiden Reiter noch nicht bemerkt. Auch wachten sie nicht über einen richtigen Grenzübergang, sondern über eine der Schwachstellen. Für sich betrachtet, war das ein Glücksfall. Eisenfuß zählte zehn Uniformierte, was wiederum weniger glücklich für sie war.
Es blieb ihnen nichts übrig, als sich ihren Weg über die Grenze herbeizuschwatzen.
»Sela«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich brauche jetzt deine Empathie hier. Wir müssen uns mit der Macht des Wortes durch diese Männer schmuggeln.«
»Ich weiß nicht«, murmelte Sela und griff sich an den Arm, wo der nackte Reif rote Brandspuren hinterlassen hatte. »Es tut so scheußlich weh.«
»Aber du musst es versuchen, verdammt!«, erwiderte Eisenfuß. »Du bist ein Schatten, Sela, und du hast eine Aufgabe zu erledigen.«
»Ich weiß.«
»Dann reiß dich jetzt zusammen und tu, was getan werden muss.«
Sie sah ihn an, verärgert erst, doch dann wurden ihre Züge hart. »Du hast Recht«, sagte sie. »Ich werde das sein, wozu ich gemacht wurde.«
Eisenfuß wusste nicht, was genau sie damit meinte, doch wenn es zum Erfolg führte, sollte es ihm recht sein. Sie ritten auf die Soldaten zu.
»Wer da?«, rief einer von ihnen.
»Wir haben Befehl, die Grenze zu passieren«, sagte Eisenfuß. »Eine Mission aus der Stadt Mab direkt.«
»Absitzen«, sagte der Soldat, der ihnen am nächsten stand. Er war ein junger Kerl und bekleidete den Rang eines Leutnants.
»Dafür hab ich keine Zeit, Leutnant. Und jetzt geht aus dem Weg.«
Der Offizier bewegte sich nicht von der Stelle. »Niemand überquert die Grenze«, sagte er. »Ich hab meine eigenen Befehle, und Eure interessieren mich nicht im Geringsten.«
Eisenfuß sah Sela an, die sich ganz auf den Leutnant konzentrierte. »Wer seid Ihr überhaupt?«, fragte der sie.
»Wir befinden uns auf einer äußerst wichtigen Mission«, erklärte sie mit klarer Stimme. »Das werdet Ihr sicher verstehen.« Eisenfuß konnte das Zögern in ihrem Blick ablesen, bemerkte ihren Kampf mit sich selbst.
»Ich weiß nicht«, sagte der Leutnant unschlüssig.
Ein anderer Soldat trat zu ihnen. »Ihr habt den Leutnant gehört«, sagte er. »Absitzen jetzt, oder ich helfe nach.«
Zu Eisenfuß' Glück hatte der Offizier seine Männer nicht wirklich im Griff. In seiner eigenen Militärzeit hatte er einige dieser Kommandanten erlebt. Ein kluger Infanterist wusste, wie man solche Typen manipulierte, damit man nicht selbst getötet wurde. Der Soldat, der Eisenfuß nun anstarrte, schien einer von dieser Sorte zu sein.
»Das können wir nicht tun«, sagte Sela. Sie tat ihr Bestes, doch sie hatte in zu kurzer Zeit zu viel durchgemacht und sah sich nun mit überaus willensstarken, überaus misstrauischen Männern konfrontiert.
»Nun gut.« Eisenfuß stieg vom Pferd und zog unter tiefstem Bedauern sein Bel-Zheret-Messer.
Eisenfuß war erstaunt, wie schnell er sie alle zu töten vermochte. Er wirbelte umher, stieß blitzschnell zu, und seine ganze Wut schien dabei in seine Aktionen zu fließen. Sämtliche hehren Ideologien und auch die letzten erhabenen Gedanken hatten sich in Luft aufgelöst. Seine Welt bestand nur mehr aus Bewegung und Balance
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