Schattenspäher
Chthoniker. Ich war mal auf einer Hochzeit in Sylvan ...« Eisenfuß schnellte auf seinem Stuhl nach vorn. »Bei Auberons haarigen Eiern, Sela! Das ist es!«
»Was ist es?« Sela wirkte ebenfalls aufgeregt, obwohl sie ganz offensichtlich keine Ahnung hatte, wieso.
»Bei Auberons riesigen, verschwitzten, haarigen Eiern!« Eisenfuß begann, in den Dokumenten auf dem Tisch herumzuwühlen. Doch er konnte nicht finden, wonach er suchte.
»Prae Benesile ...«, murmelte er. »Wo verdammt noch mal ist dieser Prae Benesile?«
»Wer um alles in der Welt ist Prae Benesile?«, wollte Sela wissen.
Eisenfuß rannte an ihr vorbei und in die Schattenhöhle. Dort machte er sich über den Bücherstapel her, der auf seinem Schreibtisch lag.
»Prae Benesile war ein Gelehrter aus Annwni, der vor fünf Jahren in Blut von Arawn ermordet wurde«, erklärte er zerstreut. »Vor seinem Tod erhielt er mehrere Besuche von Hy Pezho. Und wenn man sich die Aufzeichnungen von Hy Pezho ansieht, dann wird Prae Benesile dort einige Male erwähnt, wenngleich wir nie wussten, aus welchem Grund. Ich kam zu dem Schluss, dass Hy Pezho den Bezug zu dem Gelehrten nur hergestellt hatte, um die Nachwelt in die Irre zu führen.«
»Und das glaubst du nun nicht mehr?«
»Nein, denn es ergab bei näherer Betrachtung keinen Sinn. Warum sollte Hy Pezho so weit gehen, sich allein zu Täuschungszwecken mit diesem verrückten Tattergreis zu treffen? Und warum haben die Bel Zheret den Alten dann während des Falls von Annwn getötet?«
»Und jetzt kennst du den wahren Grund?«
»Ich glaube, ich beginne zu verstehen, ja.« Eisenfuß fand das gesuchte Buch. Es war Prae Benesiles Thaumaturgische Geschichte der chthonischen Religion. »Ich denke, dass sich die gesuchte Antwort irgendwo in diesem Wälzer verbirgt.«
»Da bin ich aber sehr gespannt«, meinte Sela.
Eisenfuß schlug das Buch auf und blätterte hin und her. Sofort wusste er, warum er es bei seiner ersten Sichtung nur überflogen hatte. Es war ein Konglomerat aus unzusammenhängendem Geschwafel, historischen Betrachtungen und religiösem Gefasel. Und obwohl es sich »thaumaturgische Geschichte« nannte, war in dem ganzen Werk kein formaler Bezug zur Thaumaturgie zu finden.
»Hm«, machte Eisenfuß. »Das könnte ein Weilchen dauern.«
Der Tempel des Gebundenen Althoin war ein sich hoch in den Himmel schraubendes Gebäude aus grauem Stein, das in einem einst exklusiven Viertel von Smaragdstadt stand. Er war einer von den zwölf chthonischen Stadttempeln, die über die ganze bekannte Welt verstreut waren. Sie waren die Brennpunkte des chthonischen Glaubens, und ein jeder von ihnen wachte über eine stattliche Anzahl kleinerer Tempel im Umkreis.
Die chthonische Religion war alt und respektiert, doch in der modernen Faegesellschaft spielte sie kaum mehr eine Rolle. Selbst jene, die dem Glauben anhingen, neigten dazu, seine Bedeutung herunterzuspielen und erwähnten ihre Götter oft mit einem Augenzwinkern, wie wenn es sich beim Chthonismus mehr um eine alte Tradition und weniger um eine wahre Glaubenslehre handelte. Hochzeiten und Beerdigungen wurden dennoch oft in chthonischen Tempeln abgehalten, einfach, weil sie so prachtvoll und schön waren. Doch die Teilnehmerzahl an Gottesdiensten, besonders in den Städten, war seit Jahrhunderten rückläufig.
Als Eisenfuß den Tempel betrat, war der Altarbereich verwaist. Aus den Räucherkesseln stieg träge Rauch auf in die stille kühle Luft. Aus den fünfeckigen Fenstern im Deckenrund fiel das Sonnenlicht, brach sich in den Rauchsäulen und produzierte in ihnen seltsame geometrische Formen.
Der Geruch aus den Räuchergefäßen brannte Eisenfuß in der Nase. Er erkannte in ihm einen Teil des Gestanks wieder, der über den Krater von Selafae gelegen hatte. Aber eben nur einen Teil.
Eisenfuß stand auf einer der Emporen und sah hinab auf den Mittelaltar, der ebenfalls eine fünfeckige Form aufwies. Über dem Altar hing ein glühendes, vielfarbenes Objekt, das etwa drei Fuß im Durchmesser besaß. Die Kynosure. Direkt darunter stand eine breite Messingschale, die dem Thuribulum eines Alchemisten nachempfunden war.
Durch den nächstgelegenen Gang machte sich Eisenfuß auf den Weg zum Altar. Beim Näherkommen stellte er fest, dass die Kynosure ein Polyeder mit vielen Facetten war, wobei jede Facette eine fünfeckige Form aufwies. Die Kynosure drehte sich gemächlich um sich selbst, und jede ihrer Schleifflächen produzierte dabei wandernde Lichtschlieren in
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