Schattenspäher
Gleichungen nieder, murmelte in sich hinein, schrie herum und warf manchmal Dinge gar durch die Gegend. Er war so nah dran! Alles fügte sich zusammen: die Karte, Hy Pezhos falsche Pläne, die Kynosure. Endlich verstand er, wie Hy Pezho die Unseelie-Thaumaturgen im Kreis herumgeschickt hatte - er hatte einfach jeden Bezug zur Dreizehnten Gabe entfernt in dem Wissen, dass keiner der Gelehrten jemals ihre Verwendung auch nur in Betracht ziehen würde. Und wie auch? Fast niemand hatte von ihr gehört, und diejenigen, die es doch hatten, glaubten nicht an ihre Existenz.
Hin und wieder kamen Silberdun, Sela oder Paet zu ihm, einen fragenden Blick in den Augen, doch Eisenfuß scheuchte sie einfach davon, meistens barsch, doch bisweilen auch wütend. Er brauchte seine Ruhe. Und es würde so lange dauern, wie es eben dauerte.
Und dann hatte er es endlich. Wieder und wieder überprüfte er die Zahlen, übersetzte die Gravuren auf den goldenen und silbernen Plättchen zweimal, dreimal. Las einmal mehr jedes Wort in Prae Benesiles Werk. Nun, da er endlich wusste, wovon zum Henker Benesile eigentlich sprach, war das Buch praktisch eine Bedienungsanleitung. Des alten Gelehrten Problem war nicht gewesen, dass er verrückt gewesen war. Ganz im Gegenteil, er war so brillant, dass er seine Leserschaft einfach überschätzt hatte. Und so hatte er sich nicht mehr damit aufgehalten, ihr Dinge zu erklären, die ihm selbstverständlich erschienen waren. Es gab im ganzen Buch nur deshalb keine Gleichungen, weil Benesile ihre Kenntnis und ihre Anwendungsmöglichkeiten beim Leser vorausgesetzt hatte.
Es war, als hätte man Eisenfuß eine große Last von den Schultern genommen. Dem Druck, den dieses eine Problem auf ihn ausgeübt hatte, hatte er nun fast ein Jahr standgehalten. Das Problem hatte alles überschattet und beeinflusst, was er getan und gedacht hatte, seit er wieder aus Selafae nach Königinnenbrück zurückgekehrt war. Wie ein Geier hatte es während seiner Schatten-Zeit über ihm seine Kreise gezogen, ihn beobachtet und darauf gewartet, dass er irgendwann den Verstand verlor.
Und nun war es endlich vorbei.
Er rief Silberdun, Sela und Paet zu sich in den Missionsbesprechungsraum.
»Hast du Neuigkeiten?«, wollte Silberdun wissen. »Oder wolltest du uns nur wissen lassen, dass du jetzt endgültig übergeschnappt und gemeingefährlich geworden bist?«
»Ich weiß jetzt, wo Hy Pezho die Energie für die Einszorn her hat«, sagte Eisenfuß. »Das Problem, das ich lange Zeit nicht lösen konnte, war, wie er so viel re in einen so kleinen Raum kondensieren konnte. Es gibt keine Möglichkeit, so etwas zu tun, und schon gar keine Möglichkeit, dermaßen viel Energie auf einmal zu binden. Und Hy Pezho muss die Unseelie-Thaumaturgen, die auf ihn folgten, fast noch mehr um den Verstand gebracht haben als mich. Warum? Weil er ihnen jede Einzelheit zum Bau der Einszorn hinterließ, bis auf jenes kleine Detail, das den Schlüssel zu seiner Erfindung liefert.«
Eisenfuß hielt die keramische Hülle der Kynosure in die Höhe. »Dieses Relikt ist alt. Wie alt, weiß ich nicht. Tausend Jahre. Zweitausend Jahre? Zehntausend? Man wird es kaum herausfinden können, und ich bin kein Geschichtsexperte, aber ich übertreibe wohl nicht, wenn ich behaupte, dass dieses Ding hier in meiner Hand seit Millennien in Funktion gewesen ist.«
»Um was zu tun?«, fragte Silberdun.
»Um das re der chthonischen Gläubigen in sich aufzunehmen. Ihre spirituelle Hingabe ist während aller Gottesdienste nahezu allein auf dieses Ding gerichtet. Benesile beschreibt in seinem Buch die Intensität dieser Rituale. Von außen betrachtet mögen uns die Chthoniker vielleicht wie ein glanzloser Haufen Frömmelnder erscheinen, aber ihre Zeremonien sind erschöpfende Angelegenheiten und ziehen sich über Stunden hin. Da werden eine Reihe von Sprüchen aufgesagt, ein paar Kräuter verbrannt und so weiter. Doch das alles hat zur Folge, dass die Essenz eines jeden Anwesenden aus ihm herausgezogen und zur Kynosure geleitet wird.«
»Und was passiert dann?«, fragte Silberdun.
»Dann wird diese Essenz von der Kynosure aufgenommen, undifferenziert und mittels des Raumfaltens an einen anderen Ort verschickt.«
»Aber wohin?«, wollte Paet wissen. »Und warum?«
»Wohin? Das kann ich euch sagen«, erwiderte Eisenfuß. »Die Landkarte ist da, wenngleich ich sie nicht sofort entdeckt habe. Doch was das Warum betrifft, da hab ich ehrlich gesagt keine Ahnung. Vielleicht haben
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