Schattenspäher
so oft wie möglich zu vermeiden suche.«
Sela starrte auf Everess' feisten Wanst und kam zu dem Schluss, dass diese »eine Mahlzeit täglich« eine recht gehaltvolle Sache sein müsse.
»Wir erreichen in Kürze meine Stadtvilla. Dort werde ich dem Koch auftragen, uns eine Kleinigkeit zuzubereiten.«
Die »Kleinigkeit« entpuppte sich als ein wahres Festmahl, wie Sela es noch nie gesehen hatte. Es gab geröstete Birkhühner, Räucherschinken und gegrillte Hochrippen, dazu Steckrüben, Kürbisse, Kartoffeln und Rote Beete. Sela hielt sich beim Essen lieber ans Gemüse; Fleisch schmeckte ihr nicht halb so gut.
Everess' Stadtvilla war mindestens ebenso groß wie Haus Katzengold und lag im Herzen Smaragdstadts. Genauer gesagt stand sie an der Laurwelana Allee, die, wie Everess mehrmals betonte, die exklusivste Straße der Metropole war. Das alles kümmerte Sela wenig, sie fühlte sich wohl in diesem Haus.
Die Straße draußen war laut, das Treiben auf ihr verwirrend und hektisch. Überall waren Fremde. Sie würde sich alsbald an diese Fremden gewöhnen müssen, das wusste sie. In Haus Katzengold hatte sie jede Person gekannt und einzuordnen vermocht. Selbst wenn ab und zu ein neuer Bewohner oder Angestellter eintraf, hatte sie sofort gewusst, warum er oder sie ins Haus gekommen war. Doch hier in der Stadt hatte man fortwährend neue Begegnungen. Die Leute kamen und gingen. Kaum hatte sie einen Passanten erspürt, da war dieser auch schon vorbeigegangen und wurde durch einen neuen ersetzt. Das alles bereitete ihr Kopfschmerzen.
»Geht's dir gut?«, fragte Everess, der auf einem Stück Schinken kaute.
»Ja.« Sela berührte ihre Stirn. Sie fühlte sich klamm an. »Ich würde mich jetzt bitte gern auf mein Zimmer zurückziehen.«
Die Wände ihres Schlafgemachs waren mit dunklem Damast bespannt, das Bettzeug besaß einen warmen Burgunderton. Wenigstens hatte Everess sich daran erinnert, welche Umgebung sie bevorzugte. Die Koffer waren bereits ausgepackt, die Kleidung verstaut. Ihre wenigen persönlichen Dinge standen auf dem Nachttisch.
Sela legte sich voll bekleidet aufs Bett und berührte das Verfluchte Objekt an ihrem Oberarm. Sie fragte sich, ob man es ihr wohl abnehmen würde? Die Vorstellung ängstigte und freute sie zugleich.
Wenngleich die Angst überwog.
7. KAPITEL
Die Promenade erstreckt sich von der südlichen (und stets heruntergelassenen) Zugbrücke der Großen Seelie-Feste bis zum Senatsgebäude, wo die Lords und Gildenvertreter miteinander debattieren und streiten und, von Zeit zu Zeit, auch das eine oder andere Gesetz der Seelie-Regierung verabschieden. Wenngleich Titania eine absolute Regentin ist, überlässt sie doch die vielfältigen Tagesgeschäfte jenen, die davon unmittelbarer betroffen sind als sie selbst. Die Seelie-Königin führt daher in erster Linie den Vorsitz über die Staatsgeschäfte und erst in zweiter Linie über die sozialen Aspekte des Lebens. Letztere wiederum sind den Fae von jeher nicht minder wichtig als staatstragende Angelegenheiten, wenn nicht sogar wichtiger.
Die Zugbrücke spannt sich über den Großen Burggraben, der mehr für seine Schönheit denn für seine Verteidigungsqualitäten gerühmt wird. Insbesondere deshalb, weil die Große Seelie-Feste seit dem Beginn der Aufzeichnung noch nie das Ziel eines Angriffs gewesen ist. Der Graben beherbergt hunderte Fischarten und Frösche, aber auch andere Geschöpfe, die man nicht sieht, deren Lied jedoch in aller Bescheidenheit den Wassern entsteigt - ein lieblicher Bittgesang, der die Poeten zu Tränen rührt.
An der Promenade steht so manches Amtsgebäude der Seelie-Regierung. Das Außenministerium und das Büro des Staatssekretärs residieren in einem imposanten, wenngleich glanzlosen Steinhaufen zur linken Seite. Die Kaserne, in der die Oberbefehlshaber der Seelie-Armee untergebracht sind, liegt gleich gegenüber. Die Tatsache, dass diese beiden Bauten einander lauernd ins Auge blicken, darf auch als Sinnbild für die innenpolitische Lage gewertet werden; ein steingewordenes Zeugnis dafür, dass Regierung und Armee nicht selten gegeneinander statt Seite an Seite kämpfen.
Die Kaserne ist neueren Datums, kaum ein Jahrhundert alt. Viele Jahrtausende lang waren die Streitkräfte in der Großen Seelie-Feste untergebracht, doch ihr oftmals feindseliges Verhältnis zur Königlichen Garde, die sich auch (und immer noch) in den herrschaftlichen Mauern befindet, führte letztlich dazu, dass das Militär in sicherer Entfernung
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