Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
mit ihrem Rosenstrauß im Arm, Steve in seinem alten Anzug, und während er noch unschlüssig überlegte, ob er sie einfach küssen sollte oder ob es besser wäre, lässig vorzuschlagen, sie könnten doch noch zu ihm gehen, sagte Sheila leise: »Es war ein sehr schöner Abend, Steve, ich danke dir dafür. Ich...möchte dir noch sagen, daß... nun, es klingt dumm jetzt ...« Sie lachte hilflos.
    »Sag es mir«, sagte Steve sanft. Gleich werde ich sie küssen, dachte er.

    »Ich bin verlobt, Steve. Ich denke, du sollst das wissen. Mein Verlobter hat ein Stipendium an der Sorbonne in Paris, aber an Weihnachten kommt er nach Hause, und dann werden wir heiraten.«
    Aus. Vorbei der Traum. Ein kurzer, allzu kurzer Traum. Da hätte es endlich einen Menschen gegeben, für den zu leben einen Sinn gehabt hätte, für den man vielleicht den Kampf aufgenommen hätte, den Kampf darum, nicht mehr ganz unten am Tisch, sondern ganz oben zu sitzen. Aber das Schicksal wollte ihn weiter deckeln, und das gelang ihm ja auch großartig.
     
    »Sie kommen zu spät«, bemerkte Miss Hunter spitz und deutete auf seinen Schreibtisch. »Da liegt eine Menge Post, die Sie noch durcharbeiten müssen.«
    Giftschlange, dachte er. Wie seltsam sie ihn anstarrte, durchdringend, lauernd. Ach was, Einbildung! Ob sie mich überwacht? Ob sie insgeheim mitrechnet? Unsinn, dann hätte sie längst zugeschlagen, wäre schon hundertmal zu der alten Gray gerannt und hätte Alarm gegeben.
    Seit einem halben Jahr unterschlug er regelmäßig Spendengelder. Am Anfang hatte es sich nur um kleine Beträge gehandelt. Es waren nicht immer Schecks, die über seinen Schreibtisch gingen, manchmal kamen auch Briefe, in denen lose Pfundnoten lagen, rührende Briefe von alten Damen, die in der Zeitung von Mrs. Grays Lebenswerk gelesen und spontan beschlossen hatten, sie zu unterstützen. Briefe von Kindern, die etwas von ihrem Taschengeld abgezweigt hatten. Oder von Hausfrauen, die irgend etwas veranstaltet hatten, einen Basar oder eine Tombola, und die den Gewinn nun Mrs. Grays Stiftung zugute kommen lassen wollten. Manchmal waren fünf Pfund in den Briefen, manchmal auch zehn, hin und wieder sogar hundert. Steve schrieb die Dankesbriefe — es gab da einen einheitlichen Text, sehr rührend, von Mrs. Gray in schönster Allgemeingültigkeit verfaßt — er brauchte im Grunde nur noch Datum, Adressaten und Betrag einzusetzen und ihn im Auftrag von Mrs. Gray zu unterschreiben. Normalerweise wurden von den Briefen natürlich
Kopien gemacht, ein Exemplar ging in die Post, das andere in die Büroablage. Außerdem bekamen die Spender eine Bescheinigung für die Steuer. Hier lag die Gefahr: Wenn Steve Gelder für sich behielt, tauchte der Betrag logischerweise nicht auf dem Konto der Gray-Stiftung auf, sondern verschwand in den Tiefen seiner Hosentasche. Einer Steuerprüfung könnten Unregelinäßigkeiten auffallen, denn die Spender setzten Beträge ab, die nirgendwo registriert worden waren. Selbstverständlich fertigte Steve in allen Fällen, in denen er sich selbst bereicherte, keine Kopien von den Dankschreiben an.
    Zum ersten Mal hatte er im März Geld an sich genommen. Es war ein kalter, windiger Tag gewesen, über der Themse kreischten die Möwen schrill und hungrig, und Steve fühlte sich so deprimiert, daß er zwischen der Arbeit immer nur aus dem Fenster starrte und dumpf vor sich hinbrütete. Als er den Brief einer alten Dame öffnete und ihm eine Fünf-Pfund-Note entgegenpurzelte, dachte er plötzlich fast feindselig: Ich bin auch ein Bedürftiger. Ich brauche auch Hilfe! Ich bin auch jemand, der vom Schicksal benachteiligt wurde.
    Er schob die Fünf-Pfund-Note in die Innentasche seines Sackos. Fünf Pfund! Auf die kommt es nicht an, das tut keinem weh!
    Er wußte nicht, daß er in diesem Augenblick etwas begann, was er bald nicht mehr würde steuern können.
    Natürlich ging er vorsichtig vor: Wenn die widerliche Miss Hunter ihre lange Nase doch einmal in seine Papiere steckte, durfte ihr nicht auffallen, daß auf einmal keine Kleckerbeträge dort mehr zu finden waren, sondern nur noch die großen Eingänge. Deshalb ließ er nur dann und wann etwas verschwinden. Heute einen Brief mit zwei Pfund, morgen einen mit zehn Pfund. Dann drei Tage überhaupt nichts, schließlich wieder einmal sechs Pfund. Das Geld kam in eine abschließbare Stahlkassette, die er sich kaufte und in seinen Kleiderschrank stellte. Den Schlüssel trug er Tag und Nacht um den Hals.
    Im Sommer wurde er

Weitere Kostenlose Bücher