Schattenspiel
mußte zugleich zugeben, daß er die Furchtlosigkeit, mit der sie Respektspersonen behandelte, widerwillig bewunderte. Gina hingegen nannte ihn einen Opportunisten und Schleimscheißer und prophezeite ihm eine aalglatte Karriere. Dank der Beziehungen seines Vaters hatte Steve schon frühzeitig einen Ausbildungsplatz im renommierten Londoner Bankhaus Wentworth & Davidson an der Angel, und er plante, dort eines Tages zumindest Vizepräsident zu sein.
Alles war anders gekommen. Keine Kaschmirpullover mehr und natürlich keine Bankkarriere. Statt dessen ein Leben als Versager, als ewig Vorbestrafter, als ein Mann, der keine Freunde mehr hatte und dessen Familie keinen Kontakt mehr zu ihm haben wollte.
Sicher würde er heute abend beim Dinner wieder am schlechtesten von allen gekleidet sein. Der Anzug, den er trug, war zehn Jahre alt, und das konnte man ihm auch ansehen. Die Artany, diese Hexe, würde es bestimmt schaffen, so aufzutreten, als kaufte sie noch immer bei Harrod’s ein. Ihm selber gelang das nie. Er meinte auch, früher größer und aufrechter gewesen zu
sein, breitere Schultern gehabt zu haben. Jetzt stand er wie zusammengesunken da, und alle seine Komplexe und Ängste drückten sich in seiner Gestalt aus.
Steve trat ans Fenster. Zu seinen Füßen lag der Central Park, von Laternen beleuchtet, und ganz langsam und sacht breitete sich ein Schneeteppich über seine Wege und Bäume. Nichts auf der Welt, so fand Steve, konnte bezaubernder sein als das verschneite New York. Sein Lebensmut hob sich wieder. Er war jetzt dreißig, das war nicht zu alt, um noch einmal von vorne anzufangen. Seinen Traum, im fernen Australien ein neues Leben zu beginnen, hatte er nie aufgegeben. Und David mußte ihm das Startkapital dazu geben. Es war seine Pflicht, denn hätte er ihn damals nicht verraten und im Stich gelassen, hätte sein Leben nie diesen schrecklichen Verlauf genommen, und er säße längst bei Wentworth & Davidson in einer der höheren Etagen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Zeit, sich in das Eßzimmer zu begeben. Er beschloß, vorher bei Mary anzuklopfen und sie zu fragen, ob sie nicht gleich mitkommen wollte.
Mary Gordon war die einzige von den Freunden, die über alle Jahre hinweg mit Steve Kontakt gehalten hatte. Sie hatte ihn im Gefängnis besucht, regelmäßig mit ihm telefoniert und sich hin und wieder mit ihm getroffen. Zum Teil lag das auch an ihrer beider ähnlichen Situation. David, Gina und Natalie waren losgezogen und hatten jeder auf seine Weise Karriere gemacht, aber Mary und Steve waren in London hängengeblieben und hatten eher die Schattenseiten des Lebens gesehen als seinen Glanz. Mary war verheiratet und hatte eine Tochter, sie lebte in einer winzigen Drei-Zimmer-Wohnung im Londoner Osten, und ihre Nerven verschlissen sich in der Angst vor der nächsten Stromrechnung und vor der Gewalttätigkeit ihres Mannes.
Sie war ein hübsches Mädchen gewesen, aber daran erinnerte heute nur noch ihr dichtes rotes Haar, das ihr in natürlichen, weichen Locken auf die Schultern fiel. Ansonsten hatte sie das Aussehen einer verhärmten Hausfrau, die kurz vor ihrem vierzigsten Lebensjahr steht. Ihre graugrünen Augen schauten immer
etwas verschreckt aus dem spitzen, sommersprossigen Gesicht. Stets wirkte sie, als fürchte sie sich vor irgendeiner drohenden Gefahr.
Auch jetzt zuckte sie zusammen, als Steve, nachdem er kurz angeklopft hatte, ihr Zimmer betrat. »Ach... du bist es, Steve!«
»Habe ich dich erschreckt?«
»Nein, ich war nur in Gedanken.« Sie schaute ihn an, und es war wie so oft: Sein Anblick gab ihr einen Stich. Welch traurige Augen er hatte. Und diese schmalen Schultern, das altmodische Jackett, die einstmals so gepflegten Haare, die jetzt schon lange nicht mehr von einem guten Friseur geschnitten worden waren.
Du warst so schön und so jung, Steve, dachte Mary, und eine andere Erinnerung erwachte in ihr, ein süßbitteres Gefühl, eine Sehnsucht, die sie durch alle Jahre hin in ihr bewahrt hatte: Sie hatte diesen Mann einmal geliebt, und alles, was sie vom Leben erhofft und erwünscht hatte, war auf ihn gegründet gewesen. Hatte er es überhaupt je bemerkt? Er war immer freundschaftlich, kameradschaftlich und gleichgültig ihr gegenüber gewesen. Der schöne Steve, der eine große Karriere machen würde. Und die kleine Mary, die mit siebzehn Jahren Mutter eines unehelichen Kindes geworden war. Auf einmal, als sie einander so gegenüberstanden in dem dunklen Zimmer, in dem nur eine
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