Schattenspiel
erlebte, wenn sie mit dem Ausdruck eines gehetzten Tieres in den Augen in ihrer Garderobe kauerte. »Ich kann die Sendung nicht machen. Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht!«
»Natalie! Reiß dich zusammen! Du schaffst es, weil du absolut die Beste bist! Jeder weiß das.«
»Ich werde es nicht durchstehen.«
»Rede dir das nicht ein, Nat!« sagte Claudine von der anderen Seite des Atlantiks her.
Natalie zuckte zusammen. Sie merkte, daß sie laut gesprochen hatte. »Claudine, dieses Dinner...die Freunde von früher... vor allem David...ich habe Angst, daß ich wieder zusammenbreche!«
»Ich hätte dich doch begleiten sollen!«
»Ich muß es doch irgendwann allein versuchen. Claudine, bist du in Gedanken bei mir? Jetzt, die ganze Zeit? Es hilft mir, wenn ich das weiß.«
»Mein Liebling, ich bin immer bei dir. Immer, in jeder Minute. Das weißt du doch!«
Natalie lauschte der sanften, weichen Stimme aus Paris wie ein Kind seinem Wiegenlied. Claudines Liebe und Anhänglichkeit beruhigten sie etwas. Auch jetzt am Abend, zwanzig Minuten bevor das Dinner beginnen sollte, dachte sie: Ich bin nicht allein! Sie überlegte, welches Kleid sie anziehen sollte und gab sich der Vorstellung hin, sie sei eine ganz normale Frau, die zu einem ganz normalen Abendessen geht und sich über nichts Gedanken macht. Sie ging ins Bad und legte ihr Make-up auf, aber
wie sie schon befürchtet hatte, half es an diesem Abend nicht viel. Sie sah immer noch elend aus.
Warum bin ich überhaupt hier? fragte sie sich. Zweifelnd starrte sie ihr Gesicht aus dem Spiegel heraus an.
Ist es einfach deshalb, weil ich diesem Schwein David nach neun Jahren noch einmal in die Augen blicken will?
Steven Marlowe war beinahe sicher, daß Gina aus demselben Grund in New York war wie er selber – sie brauchte Geld. Er hatte daheim in England die Presseberichte über sie sehr genau verfolgt – angefangen von der Pleite ihres Mannes, der in ein erfolgloses Musical investiert und alles dabei verloren hatte, bis hin zu dem Tag, an dem man ihnen auch den letzten Weidenzaun ihres hochherrschaftlichen Gutes gepfändet hatte. Wenn die Informationen der Zeitungen stimmten, besaß Gina auf dieser Welt kaum mehr als die Kleider, die sie am Leib trug.
Trotz allem, so schien es, war sie nicht so arm wie er, obwohl er objektiv wahrscheinlich mehr Geld besaß als sie. Gina war immer eine Frau gewesen, die Selbstsicherheit und Unabhängigkeit ausstrahlte, ganz gleich, wie dreckig es ihr ging. Sie hatte etwas Unverwüstliches, das sie über alle Dramen des Lebens triumphieren ließ, auch über den Verlust aller irdischen Güter. Nichts und niemand auf der Welt, so Stevens felsenfeste Überzeugung, konnte Gina Artany jemals wirklich kleinkriegen.
Aber er selbst, er war wieder einmal ganz unten. Von seinem ersten Aufenthalt im Gefängnis hatte er sich nie ganz erholt, seine zweite Gefängniszeit hatte alle seine Neurosen noch gefestigt. Steven wurde von der fixen Idee besessen, er rieche nach Gefängnis, seine Haut habe die Farbe von Gefängnis, alles an ihm sei so beschaffen, daß er das Gefängnis nie würde verleugnen können, daß jeder, der ihn traf, es ihm auf den ersten Blick ansehen konnte.
Seine Erinnerung an diese Zeit war so furchtbar, daß er noch heute oft davon träumte und dann mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachte. Sein ständiger Gedanke war: Es darf mir nie, nie wieder passieren. Aber er wußte, es konnte wieder passieren.
Wer einmal in den Strudel geriet, in dem er sich befand, landete irgendwann immer noch einmal vor Gericht. Sein Job als Kassierer in einem Londoner Parkhaus war bedroht; Automaten sollten an seine Stelle treten, und war er erst arbeitslos, dauerte es bestimmt nicht mehr lange, bis er wieder in irgendeine krumme Sache verwickelt war. Einfach um zu ein bißchen Geld zu kommen, um sich mal eine Flasche Wein oder ein gutes Rasierwasser oder einen Kaschmirpullover leisten zu können. In seiner Jugend hatte Steven seidene Hemden und Kaschmirpullover geliebt, er hatte beinahe nichts anderes getragen. Der schöne, gepflegte Steve! Immer teuer, immer elegant, immer die besten Manieren. Der junge Mann, der stundenlang das Bad blockierte. »Steve verbringt die Hälfte seines Lebens im Bad, die andere nutzt er, um sich bei den Leuten anzuschmieren, die ihm etwas nützen könnten!« hatte Gina immer gespottet. Er und Gina hatten einander nie gemocht. Er verachtete ihre Art, Konventionen in Bausch und Bogen abzulehnen und
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