Schattenspiel
die unselige Idee kam, das Haus als eine Art Hotel zu vermieten.«
»Das hat Sie gestört?«
»Es hat mich absolut entnervt! Eine Horde fettgefressener Geldprotze stapfte herum und spielte sich auf. Eine Menge Amerikaner, die es toll fanden, in einem echten alten, englischen Herrenhaus ihre Ferien zu verbringen. Nicht einmal der elende Regen konnte sie vertreiben. Sie stolperten ungeniert in jedes Zimmer und stellten hunderttausend Fragen. Charles und ich waren in einen Seitenflügel gezogen, was immerhin den Vorteil hatte, daß dort die Räume kleiner waren und man besser heizen konnte. Aber Charles wollte unbedingt, daß wir an dem großen, allabendlichen Dinner im Herrenhaus teilnahmen, die Gäste wollten es auch, und wahrscheinlich gehörte es auch dazu, aber ich haßte es. Meistens ließ ich Charles alleine hinübergehen.«
»Trotzdem liebt er sie unvermindert?«
»Ich glaube nicht«, sagte Gina, »daß mich je ein Mensch mehr geliebt hat als er.«
Kelly nickte. Ein paar Sekunden herrschte vollkommene Stille im Raum. Alle schauten Gina an, die an der Bar lehnte und bildschön aussah, einen Ausdruck leiser Traurigkeit in ihren Augen. Natalie, aus ihrer Schweigsamkeit erwacht und plötzlich lebendiger, sagte: »Wißt ihr, was uns alle verbindet? Es ist das Gefühl einer großen, inneren Einsamkeit. Wir alle waren ungeliebte Kinder. «
»Und wir hatten so viel Pech im Leben«, ergänzte Steve.
»Irrtum«, widersprach Gina, »Pech war das nicht. Wir sind alle über David gestolpert.«
»Wenn man stolpert, kann man auch wieder aufstehen.«
Natalie zündete sich eine Zigarette an, warf das abgebrannte Streichholz in den Kamin. »Nur — wir fanden es bequemer, vor uns hinzujammern.«
»Was hätte ich denn zum Beispiel tun sollen?« fragte Gina aggressiv. »im Pazifischen Ozean tieftauchen, um herauszufinden, ob John den Flugzeugabsturz überlebt hat?«
»Natürlich nicht. Aber ich glaube, wir alle machen einen Fehler: Wir suchen ständig nach Schuld. Wer ist woran schuldig, wem haben wir es zu verdanken, wenn wir etwas verpfuscht haben, wo, um Gottes willen, finden wir denjenigen, dem wir das alles ankreiden können? Wir sollten vielleicht einmal mehr über uns reden.«
»David hat...«, begann Gina, aber Natalie unterbrach sie sofort: »David hat John nicht getötet, das hast du selber schon eingeräumt. Weißt du, als du vorhin sagtest, daß ohne Davids Zutun John nie an dem betreffenden Tag in diesem Flugzeug gesessen hätte, mußte ich an einen sehr berühmten Roman denken, an Thornton Wilders ›Brücke von San Louis Rey‹. Eine Brücke stürzt ein, und sechs Menschen, die nichts miteinander zu tun haben und die sich zufällig in jenem Moment auf der Brücke befinden, sterben. Ihre Geschichten werden nun aufgerollt, und es wird klar, warum sie alle an diesem Tag, in dieser Minute, auf dieser Brücke ums Leben kommen mußten. Es ist viel von Schuld die Rede in diesem Roman, denn im Leben der Gestorbenen sind Menschen, die sich Vorwürfe machen, die glauben, daß irgend etwas, was sie gesagt oder getan haben, ursächlich dafür ist, daß der Betreffende auf dieser Brücke sterben mußte. Aber am Ende des Buches steht die Erkenntnis, daß die Frage nach der Schuld falsch ist. Fragen können wir nur nach dem Schicksal, und wahrscheinlich werden wir keine Antwort bekommen. Nein, wir werden sogar sicher keine bekommen. Aber damit müssen wir leben. Du auch, Gina.«
Gina erwiderte nichts, aber Natalie las in ihren Augen, daß sie begriffen hatte, daß sie es lange wußte, aber daß sie nichts dazu sagen würde, weil die Geschehnisse ihr noch zu weh taten.
»Gina«, fuhr Natalie fort, »hat sich in eine Ehe geflüchtet und
sich eingeredet, daß David an allem schuld ist, eine bequeme Lösung, wenn man eigene Fehler nicht sehen will. Aber das war mit uns anderen genauso. Nehmt mich: Anstatt mich in eine Klinik zu begeben und einen Entzug zu machen, bin ich von einem Therapeuten zum nächsten gerannt, habe mir immer mehr Tabletten verschreiben lassen und David dafür aus ganzer Seele gehaßt. Oder was ist mit Steve? Kaum kommt er aus dem Gefängnis, begeht er Unterschlagungen im großen Stil, weil er glaubt, sowieso keine andere Chance zu haben, und verantwortlich ist nicht er, sondern David.
Und Mary: Du lieber Himmel, es wird einem ja ganz elend bei der Vorstellung, wie sie da in ihrer gräßlichen Wohnung sitzt und sich von ihrem Mann schikanieren läßt. Mary zieht den Kopf ein, hält aus und sagt sich,
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