Schattenspiel
Dinner gehabt; es wurden nur ein paar Cocktails serviert, und der Butler stellte eine Schale mit Nüssen auf den Tisch. Ein süßer, fast weihnachtlicher Duft erfüllte den Raum, aber keiner konnte sich gegen ein Gefühl inneren Fröstelns wehren. Draußen schneite es noch immer. Irgendwo in der Wohnung schlug eine Standuhr elfmal.
»Ich hätte ihn umbringen können«, erwiderte Gina auf Kellys Frage. »Damals hätte ich ihn umbringen können. Wäre er nicht gewesen, dann hätte John an diesem 1. September 1983 nicht in dem Flugzeug nach Seoul gesessen; ich hätte ihn nicht verloren und damit nicht die Chance, zu wissen, wie er sich entschieden hat. Aber inzwischen...Mein Gott, David hat ihn nicht vorsätzlich ermordet. Und er konnte nicht voraussehen, was geschehen würde.«
Kelly nickte.
Er blickte um sich und betrachtete die Gesichter der Anwesenden. Natalie Quint wirkte in sich gekehrt, fast apathisch. Sie
kauerte auf dem Sofa, starrte in die Flammen im Kamin. Auf eine merkwürdige Weise schien es ihr gleichgültig, was sich um sie herum abspielte.
Steve aß eine Nuß nach der anderen. Er wirkte abgekämpft, seine Nervosität war Müdigkeit gewichen.
Der Mann hat zu viele eigene Sorgen und Probleme, dachte Kelly, als daß er sich übermäßig über den Mord an Bellino aufregen würde. Er hatte gehofft, Geld zu bekommen, aber das hat sich zerschlagen. Wahrscheinlich sucht er verzweifelt nach einem anderen Weg.
Mit Mary, auch das bemerkte Kelly, war in den letzten Stunden eine Veränderung vorgegangen. Sie blickte nicht mehr ganz so verängstigt, sondern trug einen Ausdruck der Entschlossenheit in den Augen. Ihr Mann wird vielleicht ein paar Probleme mit ihr kriegen, wenn sie nach Hause kommt, überlegte Kelly.
Gina ging schon wieder an die Bar und schenkte sich einen Schnaps ein. Den wievielten eigentlich in der letzten Stunde? Ihre Erinnerungen an John Eastley hatten sie aufgewühlt. Es war ein unnatürlicher, fiebriger Glanz in ihren Augen.
Merkwürdig verhielt sich Laura. Heute mittag hatte sie noch ziemlich kühl gewirkt, jetzt wurde sie langsam nervös. Irgend etwas beschäftigte sie. Als die Uhr geschlagen hatte, war sie zusammengezuckt. Ihre Hände hielt sie ineinander verkrampft. Was beschäftigte das Mädchen so sehr?
»Mich würde interessieren«, sagte Inspektor Kelly, »in welcher Lage sich jeder einzelne von Ihnen befand, als ihn die Weihnachtseinladung von David Bellino erreichte.«
»Sie meinen, ob wir gerade auf dem Klo saßen, als der Briefträger klingelte, oder unsere täglichen Gymnastikübungen machten?« fragte Gina spitz.
Kelly fand das nicht komisch. »Natürlich möchte ich es so genau nicht wissen«, sagte er ungeduldig. »Es geht um Ihre derzeitige Lebenssituation. Die allgemeine Lage, in der Sie sich befanden, als jene Briefe kamen. Und es interessiert mich natürlich auch das Motiv, das Sie bewog, der Einladung Folge zu
leisten.« Er sah sich in der Runde um. »Lady Artany, fahren wir gleich bei Ihnen fort? Sie haben damals ,1983, nach John Eastleys Tod, Ihren treuen Verehrer Lord Charles Artany geheiratet. «
»1984«, berichtigte Gina, »im Februar 1984«.
Die kleine, steingemauerte Kirche am Ende des Parks. Artany Manor, viele Morgen Land, ein graues, efeuumranktes Herrenhaus, Stallungen, Wälder. Alles ein bißchen verwunschen, verwildert und — hochverschuldet.
»Gehört im Grunde alles der Bank«, hatte einer der Hochzeitsgäste, eine dicke Dame im Reinseidenen, Gina anvertraut. »Eine gute Partie machen Sie mit Charles nicht!«
An Gina glitten die Bilder der Hochzeit wie unwirkliche Schatten vorüber. Charles im dunklen Frack, ungläubig vor Glück, immer wieder nach ihrer Hand tastend, sanft, schüchtern, rotwangig in seiner Verlegenheit. Seine Onkel und Tanten, in reicher Zahl erschienen, sagten gerührt: »Der gute Charles, endlich hat er die Frau fürs Leben gefunden.«
Dem Pfarrer, er mußte mindestens hundert Jahre alt sein, lief während der Trauungszeremonie ein dünner Speichelfaden aus dem Mund, die ganze Zeit über, und nach jedem Satz hüstelte er. Beim Abendmahl wäre ihm um ein Haar der silberne Kelch aus den Händen gefallen.
Gina sah nach wohlhabender Frau aus in ihrem grünen Kleid und dem Smaragdschmuck, wohlhabender als sie war. Ihre Kleider und der Schmuck waren ihr geblieben, nichts sonst auf der Welt. Sie hatte es zunächst gar nicht begriffen, als Johns Freund Clay ihr behutsam klarzumachen versuchte, daß John kein Testament
Weitere Kostenlose Bücher