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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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das sei eben die lebenslange Strafe für eine Dummheit, die sie mit siebzehn Jahren begangen hat und die um fünf Ecken herum von David angezettelt worden ist. Versteht ihr, was ich meine? Wir haben uns alle aus unserer eigenen Verantwortung geschlichen und verbissen auf ein Feindbild gestarrt, dessen Existenz uns die Möglichkeit gab, die Dinge nicht in die Hand nehmen und uns aufrappeln zu müssen.«
    »Sie sprechen die Dinge sehr deutlich aus, Miss Quint«, bemerkte Kelly.
    »Ich sage nur die Wahrheit. Über uns alle.«
    »Nicht über alle.« Kelly sah auf einmal sehr wach und unbestechlich aus. »Sie sagen nichts über David.«
    »Ich sage ständig etwas über David. Er ist der Angelpunkt. Ich habe...«
    »Sie bemühen sich nicht ein einziges Mal darum, in ihn hineinzusehen. Sie loten Ihre Seele aus und die der anderen, und Sie tun das mit sehr viel Sorgfalt, aber nicht ein einziges Mal fragen Sie nach David Bellinos Innenleben. Das haben Sie nie getan. Ihre Freunde genausowenig.«
    Mary riß die Augen auf. Gina ließ das Glas sinken, das sie gerade hatte zum Mund führen wollen. Inspektor Kelly ignorierte die allgemeine Überraschung. »Sie alle besuchten zusammen ein
Internat. Sie verbrachten viel Zeit gemeinsam, Sie redeten miteinander, fuhren gemeinsam in Urlaub. Sie waren einander vertraut, und Sie nannten sich Freunde. Trotzdem hat keiner von Ihnen versucht, David Bellino zu verstehen.«
    »Jetzt sind Sie ein bißchen ungerecht«, widersprach Natalie scharf. »Die meisten Dinge haben wir doch auch erst sehr viel später erfahren — zu spät. Damals in Crantock hat David mir zum erstenmal von seinen Problemen erzählt, davor hatte ich keine Ahnung. In Saint Clare gab er sich nicht wie jemand, der Schwierigkeiten hat. Er machte uns verrückt mit seiner ewigen Prahlerei wegen des vielen Geldes, das er eines Tages haben würde, und davon, daß er unsere Freundschaft gesucht hat, konnten wir wirklich nichts merken.«
    »Auch Prahlerei kann ein Versuch sein, sich Sympathien zu erbetteln. Aber wie dem auch sei, mißverstehen Sie mich nicht: Ich will mich nicht zum Richter über Ihr Tun aufschwingen, ich weiß sogar, daß Ihr Verhalten ganz normal war. Teenager gehen nicht so furchtbar sensibel miteinander um, und Sie haben nichts getan, was andere in Ihrem Alter nicht auch getan hätten. Aber wenn wir nun schon hier sitzen und uns bemühen, alles so wunderbar objektiv zu betrachten, sollten wir diesen Aspekt der Geschichte eben auch erwähnen. Keiner von Ihnen hat sich auch nur bemüht, diesen jungen Mann zu verstehen — etwas von dem zu erfahren, was er an Belastungen mit sich herumgetragen und was ihn zu so einem schwierigen Menschen gemacht hat, was ihn in diese Verwirrung gestürzt hat, in der er lebte.«
    Niemand erwiderte etwas. Inspektor Kelly wartete einige Augenblicke, dann fuhr er sachlich fort: »Aber wir waren gerade dabei, herauszufinden, was Sie taten, als Bellinos Einladung Sie erreichte. Miss Quint? Sie waren in Paris, als der Brief kam?«
    »Ja, ich...« Natalie schüttelte den Kopf, als wollte sie Gedanken abwerfen, die sie bedrängten; es kostete sie Mühe, die Frage des Inspektors vernünftig und konzentriert zu beantworten. »Ja. Ich kam gerade von einer Stunde mit meinem Therapeuten zurück. Mit dem Taxi. Meine Phobie erlaubte es mir nicht, mit
der Metro zu fahren. Ich war ziemlich niedergeschlagen an diesem Tag...«
     
    Natalies Therapeut wohnte in der Avenue de Montaigne, und als sie sein Haus verließ, stolperte sie beinahe über einen Clochard, einen uralten, verhutzelten Mann, der auf dem Gehsteig kauerte. Er hielt sie am Mantelsaum fest, wollte sie zwingen, stehenzubleiben. Sie geriet in Panik und schrie hysterisch. Ein paar Passanten blieben stehen, irgendwo im Haus ging ein Fenster auf. Dem Clochard fehlten beide oberen Schneidezähne, es war ein häßliches, gutmütiges Grinsen, mit dem er zu der entsetzten Frau aufblickte.
    »Laß mich los!« stieß sie hervor. »Laß mich sofort los!«
    Er ließ sie los, und sie lief weiter, rannte beinahe, und atmete erst auf, als sie im Taxi saß. Sie ließ sich zu Chanel fahren, und holte ein schwarz-weißes Kostüm ab, das sie vor einer Woche anprobiert und noch hatte ändern lassen. Sie wurde gefragt, ob sie es noch einmal anprobieren wollte, aber sie lehnte ab. Nur schnell wieder raus. Daß es ihr ausgerechnet heute so schlechtgehen mußte. Sie war für den Abend zum Essen mit Isabelle Adjani verabredet; sie hatte sie für ein

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