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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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David Bellino? Ich sage Ihnen, jeder von uns hätte eins gehabt. Und ich sage Ihnen noch etwas: Es ist keiner hier, der nicht irgendwann einmal gedacht hätte, es müßte ein gutes Gefühl
sein, David Bellino eine Kugel in den Kopf zu jagen. Wir haben ihn alle gehaßt!«
    Auf einmal schien der ganze Raum voller Emotionen. Fast greifbar schienen Wut, Schmerz und Enttäuschung. Wie um einem inneren Druck zu entfliehen, stand Natalie auf. Sie atmete schwer. »Wir sitzen hier seit Stunden. Können wir nicht endlich aufhören mit alldem? Ich möchte raus, ich will die kalte Luft atmen, den Schnee riechen und Sterne am frostkalten Himmel sehen...« Sie dachte plötzlich an das Haus ihres Vaters im Winter, Rauhreif über den Wiesen, und in allen Kaminen knisternde Feuer. Auf einmal war der Wunsch übermächtig, die Zeit zurückzudrehen und noch einmal ein Kind zu sein, geborgen unter dem Dach des großen, alten Hauses, eingehüllt in Sicherheit und Wärme. Könnte sie nur die Erinnerungen an alles Schreckliche loswerden, was in der Zwischenzeit geschehen war... Könnte sie nur aufhören, vor ihrer Angst davonzulaufen!
    »Wenn Sie die Sterne sehen und den Schnee riechen wollen, müssen Sie zuerst helfen, einen Mord aufzuklären«, sagte Inspektor Kelly scharf. »Ich will wissen, wer den toten David Bellino auf dem Gewissen hat, und wenn wir das ganze nächste Jahr hier sitzen!«
    »Viel Spaß«, murmelte Gina.
    »Mrs. Gordon«, sagte Kelly zu Mary gewandt, »ich nehme an, Ihr Mann war sehr ärgerlich, als sie ihm mitteilten, Sie würden nach New York fliegen?«
    »Ja. Er war nicht nur ärgerlich, sondern wütend. Er hat getobt. Ich hatte noch nie solche Angst vor ihm ...«
    »Warum sind Sie trotzdem geflogen? Für gewöhnlich zogen Sie Ihrem Mann gegenüber doch den Kopf ein. Was hat Sie bewogen, sich diesmal durchzusetzen? Hatten Sie das gleiche Motiv wie Steve Marlowe? Wollten Sie Geld?«
    Mary wurde flammendrot. »Nein! Ich wollte kein Geld. Nie. Das habe ich Steve auch gesagt, als er mich bat, gemeinsam mit ihm zu David zu gehen und Geld zu fordern. Ich habe nie in meinem Leben um Geld gebettelt.«
    »Warum kamen Sie hierher?«

    Marys Hände umschlossen das kleine Täschchen, das sie ständig mit sich herumtrug. »Wissen Sie, wie meine Ehe aussah? Ja, Sie wissen es, aber ich glaube nicht, daß Sie es sich vorstellen können. Das Schlimmste war nicht, daß Peter mich betrog, daß er nur noch betrunken nach Hause kam, daß er mich beschimpfte und ich ihm nichts recht machen konnte. Das Schlimmste war die Trostlosigkeit, in der ich lebte. Diese entsetzliche Wohnung. Manchmal glaubte ich, ich würde schreien, wenn noch einmal dieser Zug vorbeiführe. Das ewige Fluchen, Schreien, Schimpfen aus den anderen Wohnungen. Und kein Sonnenstrahl, verstehen Sie? Ich sah mein Kind zwischen Mülltonnen spielen, und es begann schon im Gassenjargon zu reden, den es überall aufschnappte. Als mich der Brief von David erreichte, dachte ich an nichts anderes als daran, daß es eine Möglichkeit wäre, für kurze Zeit dem allen zu entkommen. Ich wollte weg, nur weg!«
     
    Sie erinnerte sich an den schrecklichen Vormittag, als sie in einer eleganten Boutique Kleider für die Reise kaufen wollte. Sie hatte ihr Konto geplündert — das bißchen Geld, daß sie mit Putzen und Babysitten verdient hatte — und zusätzlich einen Kredit aufgenommen, den ihr der Bankbeamte nur widerwillig mit langem Gesicht gewährt hatte. Trotz des kalten Herbstwetters, trotz Regen und Nebel war sie beschwingt zu dem Geschäft gegangen, aber ihr Mut verließ sie, als sie die Verkäuferin auf sich zukommen sah, eine perfekt gestylte Enddreißigerin im pinkfarbenen Mohairpullover, mit schmalem, schwarzen Rock und üppigem Straßschmuck. Ihr Gesicht bedeckte eine dicke Schicht Make-up, und ihr Haar leuchtete eher violett als rot.
    »Sie wünschen?« fragte sie geschäftig.
    Mary spürte die Verachtung, die ihr entgegenschlug. In einem der vielen hohen Spiegel ringsum konnte sie einen Blick auf ihre Erscheinung erhaschen, und es wurde ihr ganz elend, so ungünstig nahm sie sich neben der anderen aus. Ihre Haut war blaß und fleckig, den Lippenstift hatte sie vor Nervosität abgeleckt. Der unmögliche, uralte Mantel, den sie trug... am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen.

    »Sie wünschen«, wiederholte die Verkäuferin noch einmal.
    »Ich... ich ...« Mary nahm all ihren Mut zusammen, »ich suche ein Kleid, das man zu guten Gelegenheiten tragen kann, ich meine,

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