Schattenspiel
Armbänder klirrten. »Möchtest du auch so schöne Sachen haben, wie June sie bekommen hat? Silberne Schuhe und Lederröcke? Und für den Winter einen Mantel aus Leopardenfell?«
»Nein. Ich möchte das lieber nicht.«
»Du bist doch ein gescheites Mädchen, und alle gescheiten Mädchen wissen, wann ihnen ein wirklich gutes Angebot gemacht wird. Also wirst du nicht so dumm sein, mich abzulehnen!
« Sein Gesicht war plötzlich ganz nah an ihrem, er lehnte sich gegen sie und drückte sie mit seinem Gesicht an die Wand.
»Laß mich los, Sid!« Sie versuchte ihren Kopf wegzudrehen, aber schon war sein Mund auf dem ihren, und grob schob sich seine Zunge zwischen ihre Zähne.
»Nein, nein...« Sie wehrte sich verzweifelt, aber er war stärker als sie, zudem geübt in dem, was er tat. Seine Zunge bewegte sich schnell in ihrem Mund, sein heißer Atem schlug gegen Lauras Gesicht. Halb erstickt, wie sie war, konnte sie nicht einmal einen Schrei ausstoßen. Sie hob ein Bein, und dann trat sie Sid mit aller Kraft auf seinen Fuß.
Wegen der Hitze trug er nur dünne Stoffschuhe, und es klang, als krachten seine Knochen. Er heulte auf, sprang zur Seite und schlug nach Laura, aber seine Faust traf ins Leere, denn flink wie ein Wiesel war sie ausgewichen.
»Ich schlag dich tot, du Hure!« Noch einmal wollte er nach ihr greifen, aber sie rannte schon die Treppe hinauf. Die Zigarettenschachtel hatte sie unten verloren, aber nun würde sie bestimmt nicht noch einmal umkehren und sie holen. Ihr war übel; noch immer meinte sie, seine Zunge zwischen ihren Zähnen zu schmecken.
Nie, dachte sie, nie werde ich mich mit einem Mann einlassen!
Sie fühlte sich einsam und verloren. Eine Angst senkte sich über ihr Gemüt, die sie nie wieder verlassen, der sie die wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens unterordnen würde.
Ken Stuart und Laura begegneten einander an einem nebligen Novembermorgen in der Subway. Laura hatte einen Job als Kassiererin in einem Supermarkt gefunden, eine Tätigkeit, die sie zwar langweilte, die ihr aber wenigstens die Möglichkeit gab, tagsüber der trostlosen Umgebung in der Bronx zu entkommen. Der Supermarkt lag in Chinatown, Lauras Schicht begann um sieben Uhr morgens. Um halb sechs stand sie auf. Im Winter fiel es ihr besonders schwer, außerdem fürchtete sie sich vor der Dunkelheit, vor der Subway, vor den sie anstarrenden Kerlen dort. Seit dem Erlebnis mit Sid im Treppenflur war ein halbes
Jahr vergangen, aber noch immer wurde ihr übel bei der Erinnerung daran. Sie vermied es, sich in irgendeiner Weise auffällig zu kleiden; ohnehin hätten ihr dazu die Mittel gefehlt, denn das Geld, das sie verdiente, mußte sie daheim abliefern. Jetzt im Winter trug sie einen schäbigen Wollmantel, um den Hals einen roten Schal, die dunklen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie lief schnell, ohne nach rechts und links zu blicken. In der Bahn versuchte sie sich immer neben eine Frau zu setzen, so fühlte sie sich sicherer. Wenn die Zeit reichte, kaufte sie vorher eine Zeitung, wobei es ihre ursprüngliche Absicht war, sich dahinter zu verbergen, aber es hatte den guten Nebeneffekt, daß sie sich tatsächlich über das alltägliche politische, wirtschaftliche und kulturelle Geschehen in den USA und der Welt informierte. Niemand hatte sie zum Lesen angeleitet, ihre Eltern konnten es nicht einmal, sie konnten nur gerade ihren Namen schreiben. Laura fraß nun jede Information in sich hinein, sie las über aktuelle Gesetzesverabschiedungen des Senats ebenso wie über die letzte Rede des Präsidenten an die Nation, über Atomforschung, medizinische Entdeckungen und Umweltverschmutzung, über die Kriege in der Welt und über neugeborene Kinder in den europäischen Adelshäusern. Sie las über Bücher, Theateraufführungen, über Kunstausstellungen. Sie war über die Schwankungen des Dollarkurses ebenso unterrichtet wie über den aktuellen Preis für argentinisches Rindfleisch. Sie las die Zeitungen von der ersten bis zur letzten Zeile, in der Hoffnung, eine in die »New York Times« vertiefte Frau werde weniger oft angesprochen, und Jahre später sollte sich die High Society an der Ostküste wundern, warum es auf all ihren Parties und Empfängen kaum ein Thema gab, bei dem das junge Mädchen aus der Bronx nicht mithalten konnte.
An jenem Morgen im November jedoch wurde Laura von einem hartnäckigen Verehrer bedrängt, der schon versucht hatte, sie in ein Gespräch zu ziehen, als sie noch vor der
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