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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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einmal im Sommer warm, höchstens wenn eine Hitzewelle herrschte. Für alle Zeiten würde Laura ihre Kindheit mit Eiseskälte in Verbindung bringen. Ein Bad gab es nicht in der Wohnung, die Harts teilten sich mit der Familie, die über ihnen wohnte, ein Klo, das sich in einer fensterlosen Zelle auf dem Treppenabsatz befand. Es handelte sich um den schmutzigsten Ort der Welt.
    Als Laura das Haus verließ, warf sie noch einen raschen Blick hinauf zu den Fenstern, um zu sehen, ob Dad vielleicht wach geworden war. Aber es blieb alles dunkel. Das Haus sah absurd aus mit seinen eingefallenen drei Stockwerken, den verkohlten Wänden und Balken, die noch hoch in die Luft ragten. Die Gebäude rechts und links hatte man vor einem Jahr abgerissen, daher waren die Außenwände der übriggebliebenen Ruine nun kahl und unverputzt. Eine grausame Trostlosigkeit lag über allem. Wie so oft, wenn sie vor ihrem Zuhause stand, dachte Laura: Warum mußte ich gerade hierher geboren werden?
    Sie wandte sich nach links, lief die Straße entlang, beide Hände tief in ihren Manteltaschen vergraben. Die Kälte brannte in ihrem Gesicht. Es war bestimmt die kälteste Nacht des Jahres, diese Nacht kurz vor Weihnachten 1980. Eine einsame Straßenlaterne brannte, eine Seltenheit in der Bronx, wo die meisten Lampen demoliert wurden, sobald sie länger als eine Stunde standen. Im hellen Schein funkelte der Schnee, fein zeichneten sich die Umrisse von Lauras Schuhen ab. Sie lief schnell, obwohl die Kälte in ihren Lungen stach. Warum war sie nur eingeschlafen? Hoffentlich kam sie für Mummie nicht zu spät. Und wenn
Mum irgendwo zusammengebrochen war, dann vielleicht wenigstens am Straßenrand und nicht in irgendeinem Hinterhof, wo es reines Glück war, daß man sie fand.
    Laura kannte die Kneipen, die ihre Mutter bevorzugt aufsuchte. In der ersten brannte schon kein Licht mehr, die Türen waren fest verschlossen. In der zweiten hingen noch ein paar Gäste am Tresen, der Wirt verkündete gerade brummend, er werde jetzt nichts mehr ausschenken.
    »Hallo, Laura!« rief er, als er das bleiche, verfrorene Kind in der Tür stehen sah. »Suchst du wieder deine Mutter?«
    »Ja. War sie heute abend hier?«
    »Klar war die Sally hier. Ist aber bald wieder gegangen. Wollte noch woanders hin.«
    »Danke.« Laura lief wieder hinaus. Die Angst trieb sie vorwärts. Straße um Straße suchte sie ab, spähte in Hauseingänge, hinter Mülltonnen, unter Treppen. Sie wagte nicht, laut zu rufen, denn damit lockte sie unter Umständen andere Trunkenbolde herbei, aber manchmal flüsterte sie: »Mummie? Bist du hier?«
    Einmal antwortete ihr ein Hund, sonst blieb alles still.
    Sie fand Mum auf dem Gelände einer Autowerkstatt, zwischen Autowracks, Reifen, Öllachen und einem toten Schaf. Sally Hart hatte offenbar in einem letzten Anflug von Klarheit versucht, in einem ausgeschlachteten blauen Ford Schutz vor der Kälte zu suchen, aber in der Tür war sie bäuchlings zusammengebrochen. Kopf und Oberarme lagen im Inneren des Wagens, der Rest ragte hinaus in den Schnee. Gleich neben ihren Füßen lag die Leiche des Schafs, dem jemand die Kehle durchgeschnitten hatte. Noch im Tod war seine Oberlippe schmerzhaft über die Zähne hinaufgezogen, lag der Ausdruck von Angst in seinen Augen. Laura kniete neben ihrer Mutter nieder. »Mum«, sie faßte sie vorsichtig an den Schultern. »Mum! Wach auf!«
    Sally grunzte leise. Sie verströmte einen durchdringenden Geruch nach Alkohol. Ihr unmöglicher, uralter, verzottelter Fellmantel stank wie eine Bierlache und fühlte sich vollkommen verklebt an; irgend jemand mußte ein Glas über ihr ausgekippt
haben. Arme Mum, sie galt als komische Figur, mit der sich alle ihre derben Späße erlaubten. Die arme, ewig besoffene Sally Hart mit den langen, strähnigen Haaren und dem ehemals hübschen, jetzt vom Alkohol aufgedunsenen Gesicht, sie war so dankbar, wenn man sich überhaupt um sie kümmerte, daß sie sich jeden noch so bösen Scherz bereitwillig gefallen ließ.
    Wenigstens lebte sie noch, wie ihr leises Stöhnen bewies. Laura versuchte sie aufzurichten. »Mum, steh auf, bitte! Wir müssen nach Hause. Es ist zu kalt hier!«
    Sally kam tatsächlich langsam zu sich. Sie stützte sich mit den Unterarmen ab und richtete sich halb auf. Mit verschwommenem Blick sah sie ihre Tochter an. »He?« machte sie.
    »Ich bin es, Laura. Ich bin gekommen, um dich ins Bett zu bringen, Mum. Du wirst krank, wenn du hier liegenbleibst.«
    »Ich bin müde«,

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