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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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murmelte Sally und wollte sich wieder fallenlassen. Laura zerrte verzweifelt an ihr. »Nicht einschlafen! Du mußt erst in dein Bett, Mum!«
    Auf irgendeine Weise schienen die Worte schließlich in Sally Harts Bewußtsein zu dringen. Fluchend und zeternd kam sie auf die Füße. Sie stützte sich dabei so schwer auf ihre Tochter, daß die meinte, ihr würden die Beine wegknicken. Trotzdem gelang es ihnen beiden, ein paar wackelige Schritte zu machen.
    »Scheiße«, murmelte Sally, »alles Scheiße.« Sie starrte das tote Schaf an. »Das da is’ auch tot. Wir sind alle tot, Laura, alle zusammen sind wir mausetot. Wir sind schon vor langer Zeit krepiert, wie das arme Schaf da!« Sie fing an zu weinen. Laura hörte kaum hin, sie wußte, wie Mum war, wenn sie zuviel getrunken hatte. Es war jetzt wichtig, daß sie rasch ins Bett kam, mit einer heißen Wärmflasche und zwei dicken Wolldecken. Hoffentlich hatte sie sich noch nichts geholt. Sie durfte auf keinen Fall wieder unterwegs umkippen, vom Schlaf übermannt, denn wer konnte wissen, ob sie danach wieder hochzubringen war. Deshalb redete Laura unablässig auf ihre Mutter ein, erzählte ihr Geschichten, irgend etwas, ohne Sinn und Verstand, rempelte sie hin und wieder an, zwickte sie in den Arm und trat ihr einmal sogar kräftig auf den Fuß.

    »Au!« schrie Sally wütend, brach gleich darauf wieder in Tränen aus und schluchzte, jeder wolle ihr immer nur weh tun. Laura war zufrieden: Fürs erste schlief Sally jedenfalls nicht ein.
    Kurz bevor sie zu Hause ankamen, begann es zu schneien. Schaudernd dachte Laura daran, wie schnell ihre Mutter von dem weißen Teppich zugedeckt und nie mehr lebend geborgen worden wäre. Sie war im letzten Moment gekommen.
    Beide froren sie zum Gotterbarmen, als sie die Wohnung betraten. Aus Angst, ihren Vater zu wecken, beschloß Laura, auf die Wärmflasche zu verzichten; statt dessen holte sie noch Junes Decke, denn es war nicht anzunehmen, daß die Schwester heute nacht nach Hause kommen würde.
    »So, Mum, komm, du mußt dich ausziehen. Erst die Stiefel. Jetzt mach schon!«
    Sally Hart faßte sich stöhnend an den Kopf. »Ich hab’ so Schmerzen«, murmelte sie.
    »Es wird besser, wenn du liegst!« Laura zerrte ihrer Mutter den stinkenden Fellmantel von den Schultern, schälte sie dann aus Hose, Pullover und Wäsche und zog ihr ein Nachthemd über den Kopf. Darüber kam eine Strickjacke und ein Schal um den Hals. »Jetzt wird es dir hoffentlich gleich wieder warm, Mum. Leg dich hin!«
    Sally sank ins Bett und war in der nächsten Sekunde fest eingeschlafen. Ihr Schnarchen erfüllte den ganzen Raum, der Schnapsgeruch, den sie verströmte, hätte jedem den Atem verschlagen. Aber – für diese Nacht war sie in Sicherheit. Todmüde kroch Laura in ihr eigenes Bett; für heute würden sie keine Alpträume mehr plagen.
    2
    In der Bronx wurden die Kinder schnell erwachsen, es blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig, wenn sie überleben wollten. Von allen Seiten lauerten Gefahren: Alkohol, Drogen, Prostitution.
Raubüberfälle, Messerstechereien, Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Entweder man verstand es, sich zu wehren, oder man blieb auf der Strecke. Zehnjährige Jungen waren bereits in der Lage, einem anderen ohne mit der Wimper zu zucken, die Kehle durchzuschneiden, achtjährige spritzten sich kaltlächelnd ihre tägliche Dosis Heroin. Mit zwölf gingen viele Mädchen bereits auf den Strich. Es galt, sich den brutalen Gesetzen der Stadt anzupassen. Es gab wenige, die es durchhielten, gegen den Strom zu schwimmen.
    June war sechzehn, als sie ihren Zuhälter, den dreißigjährigen Sid Cellar, heiratete. Bei Sid handelte es sich um einen Riesen von Mann, der ziemlich viel Geld haben mußte, denn er fuhr einen Mercedes, trug seidene Hemden und maßgeschneiderte Anzüge, hatte gewaltige goldene Ringe an allen Fingern und kleine Diamanten in den Ohren. Er saß im Wohnzimmer der Familie Hart und soff mit Jeff um die Wette. June hockte neben ihm, in Ledermini, Jeansjacke, Netzstrümpfen und silbernen Sandalen. Ihre Haare leuchteten inzwischen kupferrot. Ihr grell geschminkter Mund verzog sich nur mühsam zu einem Lächeln, ihr ganzes Gesicht hatte etwas Maskenhaftes. Trotzdem behauptete sie nachher in der Küche bei Mum und Laura, wahnsinnig glücklich zu sein.
    »Alle beneiden mich!« Das klang fast trotzig. »Sid hat unheimlich viel Geld. Er schenkt mir tolle Sachen. Außerdem wollen wir von hier fortgehen, nach Greenwich

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