Schattenspiel
dann, Laura!« und legte auf. Er mußte noch einmal hinunter zum Arzt. Noch einmal in diese Höhle. Zu denken, daß Laura und dieser ausgemergelte Junge einander dort geliebt hatten... Was hatte er Laura wirklich bedeutet? Für ihn würde das wohl eines der unlösbaren Geheimnisse in diesem Fall bleiben. Seufzend stieg er aus dem Auto.
Laura schaute über Manhattan hin, verfolgte mit den Augen die Linie der Wolkenkratzer, sah hinunter auf kleine Häuser aus rotem Backstein mit verschnörkelten, eisernen Feuerleitern vor den Fenstern. Spielzeughäuser, Spielzeugautos, Spielzeugmenschen. Vom Schlafzimmer aus konnte man bis zum East River blicken, blau und glänzend lag der Fluß unter der Wintersonne. Alle paar Minuten hob sich drüben von Queens ein Flugzeug in den wolkenlosen Himmel. Silbern, schlank und lautlos. Sie machten es einfach, von Kontinent zu Kontinent zu gelangen, Meere zu überqueren, Länder zu erreichen, die am anderen Ende der Welt lagen. So schnell ging das alles heute; schon legte die
Concorde den Weg zwischen Amerika und Europa in weniger als vier Stunden zurück. War das der Traum der Menschen? Immer schneller zu werden, immer vollkommener, immer perfekter? Und höher hinaufzukommen, der Sonne näher, dem Himmel, die Erde weit unter sich lassen? Sie ließen ihre Häuser ins Unendliche wachsen, bauten himmelhohe Paläste aus Glas und Stahl. Schon verschwamm die Skyline von Manhattan an manchen Tagen im Dunst der Wolken. Wolkenkratzer...man betrachtete sie staunend und sehnsüchtig, denn man glaubte, dort oben müsse man sich leichter und freier fühlen, und dann fuhr man hinauf, von Stockwerk zu Stockwerk, so wie man das ganze Leben darum bemüht war, Stufe um Stufe hinaufzuklettern. Und wenn man dann oben stand, ganz oben in den Wolken, dann war die Luft wie Sekt, und der Atem ging rascher... bis man begriff: In Wahrheit war man klein und unvollkommen geblieben, und vergänglich wie eh und je.
Ken war in der letzten Nacht gestorben.
Laura wandte sich vom Fenster ab. Sie betrachtete den Raum, das Zimmer, in dem sie seit einem Jahr mit David geschlafen hatte. Überscharf nahm sie alle Einzelheiten wahr: Die großen Kleiderschränke mit den Spiegeltüren. Die bunten Lampen rechts und links des Bettes. Die Fresken an der Wand, Kriegsszenen aus dem alten Byzanz, ein Vermögen wert. Der künstliche Pfirsichblütenbaum – David hatte ihn aus China mitgebracht, als gäbe es so etwas nicht auch billiger bei Bloomingdale’s – war behängt mit ihren Ketten: Perlen, Straß, Jade, Granate, Türkise, ihr ganzer vergleichsweise billiger Schmuck. Aber auch die Rubine, die sie gestern nachmittag getragen hatte, lagen wie achtlos hingestreut auf dem kleinen dunkelblauen Sofa, in das goldene Sterne und eine Mondsichel eingestickt waren. David hatte es ihr geschenkt. Laura fand es zwar kitschig, aber sie hatte sich trotzdem gefreut, es war ein Gefühl gewesen, als werde ihre Seele gestreichelt. Nun würde niemand je wieder ihre Seele streicheln. Nie wieder. Alles um sie herum war kalt und grau. Sie selber war kalt und grau. Sie fühlte sich wie tot, so tot wie Ken, der leblos auf seiner dreckigen Matratze im Keller lag. Er hatte allein sterben müssen, ohne sie.
Sie trug seidene Wäsche und Schmuck und schöne Kleider, und er war elend und einsam gestorben. Nie hätte sie den Platz an seiner Seite verlassen dürfen.
Ich habe ihn geliebt. Ich liebe ihn noch jetzt. Ich werde ihn immer lieben.
»Ken!« Sie schrie seinen Namen. Es gab so vieles, was sie ihm gern erklärt hätte – die Sache mit David, daß sie diesen Mann nicht geliebt, aber gebraucht hatte, daß sein Geld ihr die einzige Sicherheit im Leben gegeben hatte; wo sonst hatte sie sich jemals sicher fühlen dürfen? Sie fragte sich, was Ken in seinen letzten Minuten über sie gedacht hatte. Daß sie ihn verraten hatte? Daß sie eine korrupte Person war, die für David Bellinos Dollars ihrer Liebe untreu geworden war? Daß sie sich verkauft hatte, um fortan in Samt und Seide gehen zu können? Welchen Grund gab es für ihn, etwas anderes anzunehmen? Die Tatsache, daß sie ihm Geld gebracht hatte, das sie von David stahl, was bedeutete das schon! Almosen statt Liebe; und dabei hatte sie ihn doch so sehr geliebt. Die mageren Finger, die zerstochenen Arme, den dahinsiechenden, verfallenden, sterbenden Körper, die Augen mit dem Wissen um die Nähe des Todes. Ken war Wirklichkeit und Wahrheit gewesen, ihre Wirklichkeit und Wahrheit. Er hatte sie
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