Schattenspiel
brach ab, die Tanzpaare stoben auseinander, Stühle fielen um, Lichter verloschen. Eine Frau brüllte hysterisch, zwei Männer warfen mit Weingläsern um sich. Die meisten Gäste versuchten, die Treppe hinauf zum Ausgang zu gelangen, aber oben erschien bereits ein Polizeibeamter, und schreiend machten alle kehrt. Einige drängten sich durch die kleinen Fenster, doch auch da kam gleich von draußen die Warnung: »Zurück! Zurück! Hier ist alles voll von Polizei!«
Ein Tisch fiel um, irgend jemand heulte schmerzerfüllt auf. Leonard spürte etwas Feuchtes auf seinem Arm; jemand mußte ihm Wein oder Champagner über den Anzug gekippt haben. Es kümmerte ihn nicht. Vor allen Dingen wollte er jetzt hier hinaus.
Leonard Barry liebte das Risiko, aber er hatte auch etwas übrig für Absicherungen, und er hätte einen zwielichtigen Club wie das »Paradise lost« nicht betreten, ohne sich beim erstenmal über einen Fluchtweg zu informieren. Von Ken, dem Besitzer,
der ein guter Freund von ihm war, wußte er, daß man aus dem Badezimmerfenster der im ersten Stock gelegenen Wohnung des Barkeepers auf ein Schuppendach, und von dort durch einen Hof zur Straße gelangen konnte. Genau das hatte er jetzt vor. Er lief den Gang entlang, in dem sich die Toiletten befanden, und plötzlich sah er das verängstigte rothaarige Mädchen, noch um ein paar Schattierungen blasser als vorhin, und es wollte gerade in der Tür mit dem Schild »Ladies« verschwinden.
»Halt!« sagte er. »Nicht! Da suchen die zuerst.«
Sie starrte ihn an wie ein Kaninchen den Fuchs. jetzt erst merkte er, daß sie weinte. »Ich habe David verloren!«
»David?«
»Ja, er war mit mir hier. Als das mit der Polizei losging, war er plötzlich verschwunden. Ich habe solche Angst...« Sie zitterte.
»Okay, kommen Sie mit mir«, sagte Leonard ungeduldig. »Ich weiß, wie wir hier rauskommen.«
»Ich muß auf David warten!«
»Kind, Ihr David bringt sich schon alleine in Sicherheit, keine Sorge. Es wäre sehr dumm, seinetwegen hier stehenzubleiben und auf die Polizei zu warten. Sie bekommen eine Menge Scherereien, das kann ich Ihnen sagen.«
Als er einfach weiterging, kam sie nachgelaufen. »Warten Sie! Ich komme mit!«
Über eine finstere Stiege gelangten sie nach oben, durch eine schmale, baufällige Tür ins Innere einer heruntergekommenen Wohnung. Es roch nach Zwiebeln und Kohl, kalter Zigarettenrauch hing in der Luft. In einem vergoldeten Käfig flatterte ein aufgeregter Wellensittich.
Leonard kannte den Weg. Ohne Licht zu machen, fand er das Badezimmer, schwang sich auf den Rand der Badewanne und stieß das kleine Fenster auf. Feuchter Nebel schlug ihnen entgegen. Leonard betrachtete das Fenster skeptisch. »Sie kommen da leicht durch, Miss... Wie heißen Sie eigentlich?«
»Mary. Mary Brown.«
»Gut, Mary. Dann versuchen Sie es mal zuerst. Ich hoffe, ich kann mich hinterherquetschen.«
Sie zauderte immer noch, und Leonard dachte: Ein Schaf! Ein richtiges kleines Schaf!
Laut sagte er: »Nun machen Sie schon! Sie stürzen nicht ab auf der anderen Seite, da kommt gleich ein Schuppendach. Keine Angst!«
Endlich bequemte sie sich, ihren Kopf durch das Fenster zu stecken, schien dann offenbar auch bereit, den Körper nachzuziehen.
Sie hat eine ziemlich gute Figur, dachte Leonard. Aber keinen Mumm in den Knochen. Ob die überhaupt schon je was mit einem Mann hatte?
Mary war in der Dunkelheit verschwunden. Leonard konnte nur noch ihre piepsige Stimme hören. »Ich bin jetzt hier draußen!«
»Okay. Ich komme.« Zweifelnd betrachtete er das Fenster. Ich bin so verdammt fett, dachte er.
Mit viel Geächze und Gestöhne hatte er sich schließlich hinausgewunden und stand neben Mary auf dem Wellblechdach. Geduckt lief er vor ihr her; ohne weiter zu fragen, eilte sie ihm nach. Es war sehr kalt; beide hatten sie keinen Mantel.
Das Schuppendach verlief in einer sanften Schräge nach unten und lag am Ende nur noch einen Meter über dem Erdboden. Dann standen sie in einem kleinen Hinterhof, dessen Tor zu einer engen, stillen Straße hinführte. Stimmen, Geschrei und das Geheule der Polizeisirenen klangen von fern. Leonard kramte ein Päckchen Zigaretten hervor. »Möchten Sie auch, Mary?« Sie schüttelte den Kopf und blickte verzweifelt um sich. Irgendwie erinnerte sie ihn an einen herrenlosen Hund, der durch die Straßen streunt und sich danach sehnt, von irgend jemandem aufgesammelt zu werden.
»Wo wohnen Sie?« fragte er. Ihre Augen waren groß und dunkel
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