Schattenspiel
schrieb die besten Aufsätze, diskutierte jeden Lehrer in Grund und Boden und löste hochkomplizierte Mathematikaufgaben mit derselben Gelassenheit, mit der sie in der Zeichenstunde ein Aquarell von Saint Clare anfertigte oder in der Sportstunde ein Tor nach dem anderen für ihre Handballmannschaft warf. Mary wunderte sich selbst, warum die gescheite Natalie mit dem hochherrschaftlichen
Background ihr Zeit und Aufmerksamkeit widmete, und anfangs dachte sie, es geschähe aus Mitleid, in Wahrheit aber mochte Natalie sie wohl tatsächlich. Natalies Freunde – David, Steve und Gina – schüchterten Mary ein, aber zu Natalie hatte sie Vertrauen. Einmal kamen sie beide von einem Spaziergang zurück, müde und schweigend, mit windzerzausten Haaren, und irgendwo im Park, zwischen blühendem Flieder und duftendem Jasmin, blieb Natalie stehen und sagte mit ihrer immer etwas atemlosen Stimme: »Du bist so schön, Mary. Du weißt gar nicht, wie sehr. Du könntest jeden Mann haben.«
Mary sah sie einen Moment lang überrascht an, dann protestierte sie: »Das stimmt nicht. Ich bin nicht einmal hübsch, geschweige denn schön. Ich habe...«
»Du hast manchmal ganz grüne Augen und das schönste kupferrote Haar der Welt. Mary, glaub doch, daß du jemand bist! Du könntest stolz auf dich sein!«
»Nat, hast du ernst gemeint, was du gesagt hast? Daß ich... jeden Mann haben könnte?«
»Natürlich habe ich das ernst gemeint. Vergiß nie, du brauchst dich nicht an irgendeinen Kerl wegzuwerfen, du kannst es dir leisten zu warten, bis der kommt, der es wert ist!«
»Ich möchte heiraten, Natalie, irgendwann. Ich will einen Menschen haben, der mir ganz allein gehört, der mich liebt und bei dem ich mich geborgen fühlen kann. Ich will ein Haus und einen Garten mit Blumen und ...« Ihre Stimme schwankte, sie schwieg. Das Gefühl von Kälte und Einsamkeit stieg in ihr auf und umklammerte sie mit harten Armen.
Natalie zog sie an sich. »Keine Angst, Mary. Es wird so werden, wie du es dir wünschst. Du brauchst dich nicht zu fürchten.«
»Ich fürchte mich aber«, erwiderte Mary leise. »Weil ich glaube, daß mein Vater recht hat. Niemand verläßt den ihm angestammten Platz. Ich komme aus einem düsteren, engen Haus, und ich werde dorthin zurückkehren. Eines Tages.«
»Du wirst Steve heiraten, und ihr werdet ein gutes Leben haben«, sagte Natalie leichthin.
»Steve? Wie kommst du denn darauf?«
Natalies Augen waren klar und wissend. »Du bist verliebt in ihn. Warum sprichst du nicht mit ihm?«
»Was soll ich ihm denn sagen? Er würde über mich lachen.«
»Warum?«
»Wir passen nicht zusammen. Er wird eine große Karriere machen, und dafür braucht er eine ganz andere Frau. Nicht ein armes, kleines Mädchen aus Liverpool.«
Durch die Blätter der Eiche über ihnen fielen ein paar flimmernde Lichtstrahlen und malten tanzende Muster auf den Weg.
»Meinst du nicht, du wirst es irgendwann bereuen, wenn du nicht redest?« fragte Natalie leise.
Mary pflückte einen langen Grashalm und zupfte ihn gedankenverloren in Stücke. »Ich würde es bereuen, wenn ich rede«, sagte sie.
2
Es war an einem Herbstabend des Jahres 1978, als Mary neben David im Zug saß und das kleine, schwarze Samttäschchen, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, fest an sich preßte. Etwas Geld war darin, ein Ausweis und ein Päckchen Papiertaschentücher. Außerdem ein Lippenstift und ein Parfum, das Natalie gehörte. Es roch herb und frisch, nach den grünen Hügeln von Somerset, von denen Nat stammte, und Mary fand, daß es zu ihr überhaupt nicht paßte.
Der Zug ratterte durch die frühe, herbstliche Dunkelheit. Mary betrachtete Davids Profil. Eine hohe Stirn, eine herrische Nase, gutgeschnittene Lippen. Wie so oft fragte sich Mary, wer David eigentlich sei. Die Unsicherheit, die sie ihm gegenüber empfand, teilte sie mit vielen Leuten. War er einfach ein Angeber? Ein guter Freund? War er eingebildet oder nett, entgegenkommend oder abweisend, verständnisvoll oder nur auf seine eigenen Angelegenheiten konzentriert? Oder war er alles zugleich?
Oft hatte Mary den Eindruck, daß ihm durchaus an der Freundschaft seiner Schulkameraden gelegen war, aber dann wieder tat er plötzlich etwas, was die anderen vor den Kopf stieß oder zumindest ärgerte. Zum Beispiel indem er zum hundertsten Mal von dem reichen Mann in Amerika erzählte, der ihn zu seinem Erben bestimmt hatte. Es konnte schon keiner mehr hören.
»Ich werde so reich sein, wie sich das hier
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