Schattenspiel
vor Angst.
»Ich wohne nicht in London. Ich wohne ein ganzes Stück weit weg. Der nächste Zug geht erst gegen Morgen. Und außerdem muß ich unbedingt David finden!«
»Tja, das dürfte im Moment schwierig sein. Wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Er saß neben mir an der Bar, und als das Geschrei plötzlich losging, war er von einem Moment zum anderen verschwunden. Ich hab’ das alles ja gar nicht so schnell begriffen!«
Leonard blies die Rauchkringel in die Luft. Langsam wurde ihm sehr kalt, und er hatte absolut keine Lust, hier noch lange herumzustehen und sich womöglich zu erkälten. »Wissen Sie, ich finde das Benehmen Ihres Freundes schon etwas seltsam. Es scheint ihm ja völlig gleichgültig zu sein, was aus Ihnen wird.«
»Er ist nicht mein Freund. Nur ein... Bekannter.«
»Auch ein Bekannter sollte sich ein bißchen besser um Sie kümmern, finde ich. Wenn ich mit einer Frau irgendwohin gehe, sehe ich zu, daß ich mit ihr auch wieder fortgehe. Besonders, wenn sie so attraktiv ist wie Sie – Mary«, fügte er sanft hinzu.
Mary sah ihn verwirrt an. »Was tu ich denn jetzt?«
»Also – Sie können jetzt nicht in die Nähe des ›Paradise lost‹ gehen, sonst verhaftet man Sie. Sie hätten dann zwar einen Platz für die Nacht, nämlich eine schöne, warme Gefängniszelle, aber ich weiß nicht, ob ...«
»Nein! Nein, um Gottes willen! Ich muß morgen früh rechtzeitig zu Hause sein, sonst bringt mich mein Vater um!«
O Gott, dachte Leonard, eine behütete Tochter!
Er warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. »Auf jeden Fall können wir hier nicht stehenbleiben. Mir wird allmählich ziemlich kalt, und Sie haben auch schon ganz blaue Lippen. Ich schlage vor, Sie kommen mit zu mir.« Der Gedanke spukte schon die ganze Zeit in seinem Kopf herum, denn er war inzwischen ganz und gar davon überzeugt, er werde unter keinen Umständen allein in die Wohnung zurückgehen können. Möglicherweise würde dieses Mädchen zwar vollkommen hysterisch reagieren, wenn er es anrührte, andererseits aber schien es für heute nacht niemand anderes zu geben.
Abwartend sah er sie an. »Nun, was ist? Kommen Sie jetzt?« Mary sah aus wie ein gehetztes Tier, während sie zwischen den Möglichkeiten, die ihr blieben, abwog: War es schlimmer, bei der Polizei zu landen, oder die Nacht hier auf der Straße zu verbringen, oder mit einem fremden Mann in dessen Wohnung zu gehen?
Ihr ging auf, daß ihr im Grunde keine Wahl blieb, und während sie bereits in Tränen ausbrach, sagte sie: »Ja, gut. Ich komme mit.«
Mary hatte nie zuvor eine so luxuriöse Wohnung gesehen. Kristallene Leuchter schwangen von der Decke, Champagnerkübel, gefüllt mit wahren Büschen von Rosen, standen überall herum, gedämpfte Musik klang aus verborgenen Lautsprechern. Man schritt über weiche, goldfarbene Teppiche und fühlte sich wie in einem Museum, das Kunst und Kitsch auf einzigartige, unverfrorene Weise mischte. Obwohl Leonard gesagt hatte, sie solle es »sich gemütlich machen«, während er sich umzöge, blieb sie in der Mitte des Zimmers stehen und rührte sich nicht. Sie fühlte sich wie in einem fremden, wirren Traum. Die Razzia, die Flucht über das Dach, die Fahrt in Leonards Auto durch das dunkle London und jetzt diese Wohnung vermischten sich zu einer seltsamen, unwirklichen Geschichte. Im Auto hatte Leonard einmal seine Hand auf ihr Knie gelegt, aber als er sah, daß sie erst zusammenzuckte und dann ganz starr wurde, zog er sie wieder fort und lachte. »Nun machen Sie nicht so ein Gesicht, Mary. Ich will Sie ja nicht fressen!«
Ja, aber vielleicht willst du Schlimmeres, dachte sie verzagt.
Leonard trat wieder ins Zimmer, er trug jetzt einen weißen Bademantel und roch nach einem aufdringlichen After Shave. Er brachte eine Flasche Champagner und zwei Gläser mit.
»Meine Güte, Mary, nun setzen Sie sich doch! Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Und machen Sie nicht ein Gesicht, als sei die Welt dabei unterzugehen. Ich verspreche Ihnen, morgen früh sitzen Sie rechtzeitig im richtigen Zug, der Sie wieder in die Arme Ihres Vaters führt. Aber bis dahin – bitte! – entspannen Sie sich ein bißchen!«
Mary lächelte schwach und sagte: »Ja, natürlich!«, setzte sich aufs Sofa und fühlte sich alles andere als entspannt. Leonard nahm den Platz neben ihr. Er schenkte Champagner ein, dann hob er sein Glas und prostete Mary zu. »Auf Ihr Wohl, Mary!«
Sie lächelte wieder und dachte gleichzeitig: Ich kann doch
nicht
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