Schattenspiel
niemand vorstellen kann. Die Häuser, die ich dann habe, werde ich alle gar nicht bewohnen können. Ich werde praktisch nichts anderes zu tun haben, als meine ganzen Konten zu verwalten.« Er schwieg, und dann setzte er die Worte hinzu, die er besonders gern und oft sagte: »Ich werde auf die ganze Welt scheißen können.«
Gina, die schöne Gina, mit den viel zu stark geschminkten Augen und dem taillenlangen dunklen Haar erwiderte dann: »Das schaffst du. Du bist jemand, der über Leichen geht. Du interessierst dich ganz allein für dein Wohlergehen und sonst für einen Dreck, und solche Leute kommen immer dahin, wohin sie wollen.«
»Und was ist mit dir?« gab er zurück, und sie lachte, weil er glaubte, sie seien einander ähnlich. »Ich habe Verantwortungsgefühl«, sagte sie, »leider. Okay, den oder jenen würde ich auch über die Klinge springen lassen, aber dann kommt immer wieder einer, dessen Sorgen ich mir auflade, und das wird mich eines Tages noch mal stolpern lassen.«
Ich wünschte, ich wäre wie Gina, dachte Mary und wußte, daß sie sich vor allem anderen ihr Leben lang wünschen würde, eine andere zu sein. Ich hätte dann nie Angst. Ich hätte auch jetzt keine Angst!
Wieder betrachtete sie Davids Profil, blickte dann an ihm vorbei hinaus, wo sie in der Dunkelheit nur hin und wieder Umrisse der vorübergleitenden Bäume und Büsche sehen konnte. Kahle Felder, aber noch kräftige Blätter an den Bäumen, die am Tag in bunten Farben leuchteten. Jetzt waren sie alle schwarz und schienen zu frieren.
Unwillkürlich hob Mary fröstelnd die Schultern. Unter ihrem
Mantel trug sie ein dünnes rosafarbenes Leinenkleid, dessen Rock ihr gerade über den Po reichte. Das Kleid gehörte Natalie, die zwar sehr schlank, an manchen Stellen aber um einiges voller als Mary war, die noch immer die Figur eines zwölfjährigen Mädchens hatte. Sie hatten in Windeseile zwei Abnäher gemacht, dann war Gina mit einem breiten Ledergürtel gekommen und hatte ihn um Marys kindlich schmale Taille gezerrt. »So! Damit du wenigstens ein bißchen Kurven bekommst. Und dann zieh meine hochhackigen Schuhe an, die dürften dir zwar etwas zu groß sein, aber du kannst unmöglich in diesen flachen Schnürschuhen gehen, die du sonst immer trägst!«
Eine fremde Puppe blickte sie an, als sie in den Spiegel sah. Schwarze Wimpern, rote Lippen, Rouge auf den Wangen. Nat hatte ihr die Haare eingedreht und kämmte sie nun zu großen, weichen Locken. Straßperlen glitzerten an den Ohren. Dazwischen ein blasses, verschrecktes Gesicht.
»He«, sagte Gina, »guck ein bißchen fröhlicher! Heute ist dein siebzehnter Geburtstag!«
Sie fühlte sich, als wäre sie höchstens zehn, und das wäre ihr auch lieber gewesen. Dann hätte sie niemand in eine Bar schicken können. Aber die Freunde meinten es gut, sie hatten ihr den Abend zum Geburtstag geschenkt. Mary hatte sich mit Händen und Füßen gesträubt. »Mein Vater! Wenn mein Vater es herausbekommt, kann ich mich erschießen!«
»Er wird’s nicht merken.«
»Er kann es ganz leicht merken.«
»Mein Gott, er kontrolliert ja nicht jeden Abend, ob du im Bett liegst oder nicht. Und morgen ist Sonntag. Bis hier alle aufwachen, bist du längst zurück!«
»Außerdem begleitet dich David. Dir kann überhaupt nichts passieren!«
Sie stand vor dem Spiegel, musterte verzagt ihre Beine unter dem kurzen Rock. Viel zuviel Haut. Die Stimme ihres Vaters dröhnte in ihren Ohren: »Die Sünde der Menschen kommt auf sie zurück! Alle Sünde verlangt ihre Sühne! Eines Tages...«
»Woran denkst du?« Davids Stimme riß sie aus ihren Gedanken.
Der Zug ratterte noch immer, und draußen war es nun kohlpechschwarze Nacht. Mary rang sich ein Lächeln ab. Sie fragte sich, ob es David gefiel, mit ihr in eine Bar zu gehen oder ob er sich dem Druck der anderen gebeugt hatte. Sie konnte sich die Gespräche vorstellen: »Die arme, kleine Mary! Sie muß auch einmal rauskommen und etwas Nettes erleben. Sie versauert hier sonst noch völlig!«
Vielleicht hatte das Los zwischen Steve und David entschieden, und David hatte es getroffen. »Du weichst nicht eine Sekunde von Marys Seite«, hatte ihm Gina eingeschärft, und er hatte schließlich ungeduldig geantwortet: »Natürlich nicht. Ich bringe sie euch wohlbehalten zurück!«
Sie passierten die ersten Vororte Londons. Plötzlich spritzte Regen gegen die Scheiben. Lichter blitzten aus der Dunkelheit. Mary sehnte sich in ihr Bett.
Leonard Barry hatte an diesem
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