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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Unaufmerksamkeit hatte die andere genutzt, um sie am Arm zu packen und mit unerwarteter Kraft zu Boden zu werfen. Mary lag auf der Seite, das Gesicht halb im Schlamm, den einen Fuß schmerzhaft umgeknickt, aber sie bemerkte das Stechen in ihrem Knöchel kaum. Ein rasender Schmerz durchfuhr ihren Arm, dann ihre Schulter, gleich darauf ihre Rippen. Schmerz um Schmerz, und auf eine seltsam analysierende Art fragte sie sich: Woher kommen diese furchtbaren Schmerzen?
    Dann erst begriff sie, daß diese Irre über ihr lag, sie mit ihrem Gewicht in die nasse Erde preßte und unbarmherzig mit einem
Messer auf sie einstach. Helles Metall blitzte; wieder und wieder hob sie den Arm und ließ ihn niedersausen, sie schrie etwas – oder waren es ihre eigenen Schreie, die Mary hörte? Sie spürte etwas Warmes, Feuchtes über ihre Hände und an den Beinen entlanglaufen, und immer noch erneuerte sich wieder und wieder der Schmerz, und es schien ihr, als seien Stunden vergangen, bis sie endlich die Besinnung verlor.
     
    Als sie aufwachte, war ihr schlecht, und sie mußte sich übergeben. Jemand stützte ihren Kopf und hielt ihr eine flache Schale vor den Mund. Sie saß in einem weißen Bett, um sie herum roch es nach Bohnerwachs und Desinfektionsmittel, und auf einem Tischchen drängelten sich ein paar lila gefärbte Tulpen in einem Zahnputzbecher.
    Mary spuckte ein wenig Galle, dann sah sie auf. Eine Krankenschwester und ein Arzt beugten sich über sie und musterten sie besorgt.
    »Na endlich«, sagte der Arzt, »wir dachten schon, Sie wachen überhaupt nicht mehr auf!«
    Mary sah ihn aus großen, verwirrten Augen an. »Was ist denn passiert?«
    »Sie waren ganz schön am Ende, junge Frau, als man Sie hierherbrachte. Blutüberströmt, mit achtzehn Messerstichen am ganzen Körper. Es ist ein absolutes Wunder, daß kein lebenswichtiges Organ verletzt wurde. Nur die Milz war zerfetzt, die haben wir herausgenommen.«
    »Was war denn ...« Nur langsam dämmerte die Erinnerung in Mary herauf.
    »Sie sind im St. James Park überfallen worden«, erklärte die Schwester. »Von einer geistesgestörten Frau, die vor zwei Tagen aus einer geschlossenen Anstalt ausgebrochen ist und nach der fieberhaft gefahndet wurde, da sie als außerordentlich gefährlich gilt. Glücklicherweise kamen zwei Männer vorbei und sahen Sie bewußtlos und schwerverletzt auf der Erde liegen. Die Täterin saß nur wenige Schritte entfernt auf einer Bank, das Messer noch neben sich.«

    »O Gott!« Der Nebel in Marys Kopf lichtete sich. Bruchstückhafte Bilderfetzen setzten sich zu einem Ganzen zusammen. Sie wußte wieder, was geschehen war. Und nun merkte sie erst, daß sie am ganzen Körper Verbände trug, an Armen, Beinen, Schultern und um die Rippen.
    »O Gott, ich weiß! Diese Verrückte, die mich nicht in Ruhe gelassen hat...die furchtbaren Schmerzen ...«
    »Es ist vorüber!« Väterlich tätschelte der Arzt ihren Arm. »Denken Sie nicht mehr daran. Ihre Freunde waren schon alle hier, aber Sie schliefen, und wir konnten sie nicht zu Ihnen lassen. Sie haben die Tulpen für Sie abgegeben.«
    Mary nickte, dann brach sie in Tränen aus, weil ihr das ganze Elend wieder in den Sinn kam, weil sie Schmerzen hatte, und weil ihr alles so hoffnungslos erschien.
    Der Arzt sah sie freundlich an. »Aber, aber! Sie haben wirklich großes Glück gehabt, und es grenzt an ein Wunder: Ich kann Ihnen versichern, daß dem Kind nichts passiert ist!«
    Sie schluchzte eine Weile weiter, dann erst drangen seine Worte durch den Nebel. »Was?«
    »Das Kind hat keinen Schaden genommen. Sie müssen sich nicht fürchten. «
    »Welches Kind?«
    »Haben Sie das nicht gewußt? Meine Liebe, Sie sind im zweiten Monat schwanger!«
     
    Michael Brown lag nächtelang wach und haderte mit seinem Schicksal. Weiß Gott, das hatte er nicht verdient – diesen Schicksalsschlag nicht! War er nicht regelmäßig zur Kirche gegangen, hatte er nicht ein gottesfürchtiges Leben geführt? Nie einen Tropfen Alkohol, seit dem Tod von Marys Mutter keine Frau mehr. Und nun so etwas! Seine siebzehnjährige Tochter, die er behütet hatte wie seinen Augapfel, war schwanger. Er hätte auf sie einschlagen mögen, um den Namen des Dreckskerls herauszubekommen, der sie geschwängert hatte, aber sie preßte nur die Lippen zusammen, in eigene Gedanken versunken, das Toben und Schreien ihres Vaters gar nicht wahrzunehmen.

    »Was gedenkst du zu tun? Was gedenkst du zu tun?«
    In ihren Augen lag ein weltferner Ausdruck, als

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