Schattenspiel
bekannt. Er tauchte immer wieder im Dunstkreis terroristischer Vereinigungen auf. Innerhalb weniger Minuten tickerte die Fahndungsmeldung durch alle Polizeistationen des Landes. Auch an allen Häfen, von denen Linienschiffe zum Festland hinüber abgingen, wurden die Grenzbeamten verständigt.
»Obwohl«, so der Chefinspektor der Polizei Plymouth brummig zu einem Kollegen, »obwohl der Kerl jede Menge Zeit gehabt hat, England zu verlassen, wenn er das wollte!«
Zur selben Zeit – es war jetzt ungefähr halb acht Uhr abends – stand ein junger Mann in einer Telefonzelle der französischen Stadt Nantes und wählte mit zitternden Fingern eine Nummer. Nervös lauschte er auf den Klingelton im Apparat. Es mußte doch jemand zu Hause sein, bitte, es mußte jemand dasein...
Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, bis jemand den Hörer abnahm.
»Hallo?«
»Hallo? Steve? Bist du es, Steve?«
»Ja, hier ist Steve Marlowe. Wer spricht dort – doch nicht Alan?«
»Ja, Alan. Steve, hör gut zu, ich kann dir am Telefon nichts erklären, aber ich bin in großen Schwierigkeiten, und ich muß dich unbedingt sofort treffen.«
»Wo bist du denn?«
»In Frankreich. In Nantes. Steve, hast du ein Auto?«
»Ja, aber ...«
»Setz dich rein und komm zum Bahnhof in Nantes. Es ist ja nicht so weit von St. Brevin oder wie dein Ferienort heißt! Erzähl den anderen meinetwegen, du machst noch eine Rundfahrt durch den schönen Abend, oder etwas Ähnliches. Aber bitte komm sofort!«
»Alan, ich verstehe nicht ...«
»Ich werde dir alles sagen. Aber bis dahin, wenn dich jemand fragt, mußt du jedem schwören, daß ich gestern bereits den ganzen Tag in Frankreich war und daß wir ständig zusammen waren. Steve, versprichst du mir das? Ich brauche unter allen Umständen ein bombensicheres Alibi!«
2
Sie waren immer ungleiche Brüder gewesen, Alan und Steve Marlowe, Söhne eines einstmals beinahe mittellosen Werbetexters aus Norwich, Norfolk, der irgendwann das Glück gehabt hatte, einen attraktiven Slogan für einen Automobilhersteller zu finden, der seinen Namen weltweit bekannt und ihn zum reichen Mann machte. Die Familie verließ Norwich und ging nach London, wo sie eine komfortable Zehn-Zimmer-Wohnung unweit des Buckingham Palastes bezog. George Marlowe, dem auf einmal viel mehr Möglichkeiten offenstanden als er sich je erträumt hatte, wollte vor allem eines: eine blendende Zukunft für seine Söhne.
Steve, zwei Jahre jünger als Alan, zeigte sich für alle Pläne seines Vaters sehr empfänglich. Er war ein weicher, zarter Junge, immer etwas ängstlich und nicht im geringsten an den wilden Spielen der anderen Jungs interessiert. Seine Mutter, Grace Marlowe, glaubte, ihn in Watte packen und vor dem rauhen Leben beschützen zu müssen.
Steve wurde zu einem schönen, blassen jungen Mann, der einen Großteil seiner Zeit der Pflege seines Äußeren und dem Einkaufen der neuesten Mode widmete, und im übrigen durch
mustergültiges Benehmen auffiel. Es gab bei ihm keine Phase der Rebellion, ebensowenig eine, in der er verwegene, verrückte Pläne für seine Zukunft schmiedete. Da er alles fürchtete, was rechts und links von dem geraden, überschaubaren Weg lag, den er für sich geplant hatte, tat er nie einen Schritt zur Seite. Er wußte nicht, daß viele Leute ihn für unerträglich opportunistisch hielten und daß er sich keineswegs so großer Beliebtheit erfreute, wie er immer annahm. Als er nach Saint Clare kam, um eine exklusive Schulbildung zu erhalten, war es bloß die freche Gina, die ihm immer wieder sagte, was sie von ihm hielt (und was insgeheim alle von ihm hielten), aber er schüttelte das ab, indem er Gina im Geiste als ordinär und grob einstufte und zu der Ansicht gelangte, daß der Neid ihre Zunge schärfte. Sein Vater, auf bestem Fuße mit den führenden Banken Londons, hatte für ihn bereits eine Ausbildung bei Wentworth & Davidson arrangiert, und Mr. Wentworth ließ keinen Zweifel daran, daß Steve eine große Karriere machen könnte.
Alan, groß und robust wie er war, wurde weder verwöhnt noch verzärtelt, wahrscheinlich auch nicht besonders geliebt, und er rächte sich für diese Zurücksetzung, indem er eine grundsätzlich oppositionelle Haltung seinen Eltern gegenüber einnahm. Mit dreizehn wurde er dann bei einem Kaufhausdiebstahl erwischt; er hatte wahllos in seiner Tasche verschwinden lassen, was ihm gerade zwischen die Finger kam. Mit fünfzehn gründete er gemeinsam mit Freunden eine radikale
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