Schattenspiel
Gruppe, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, den Kapitalismus zu vernichten und die bestehenden Machtverhältnisse zu stürzen. Die Aktivitäten dieser Gruppe blieben innerhalb eines bescheidenen Rahmens; die Jungen beschäftigten sich im wesentlichen mit Sitzstreiks, Demonstrationen und dem Herstellen von Flugblättern. Dann solidarisierten sie sich mit der IRA und fingen an, Schaufensterscheiben einzuschlagen. Alans Vater bekam dicke Schadensersatzrechnungen präsentiert.
Natürlich ging Alan kaum noch zur Schule, George Marlowe zahlte ein Vermögen an viele Privatschulen des Landes, in der Hoffnung, Alan doch noch irgendwie durchzubringen, aber das
Ende vom Lied war, daß der Sohn ohne Abschluß dastand und auch keine Absicht zeigte, irgendeine Ausbildung zu beginnen.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich seine Eltern zwar wegen seines Lebenswandels gegrämt, aber immer noch gehofft, dies sei bloß vorübergehend und werde nach der Pubertät von selbst verschwinden. Mit achtzehn aber ging Alan von daheim fort, über Nacht, und keiner wußte, wohin. Zwei Jahre lang hörten sie nichts von ihm. Dann stand er eines Tages wieder vor der Tür, langhaarig, abgemagert, mit tief eingesunkenen Augen und fahler Gesichtsfarbe.
»Himmel, Alan, wo warst du?« schrie Grace, die in einem grünseidenen Neglige aus dem Schlafzimmer gestürzt kam, wo sie im Bett gefrühstückt und grübelnd Alans gerahmte Fotografie betrachtet hatte.
Alan stellte seine Tasche ab und starrte in den Garderobenspiegel, als sähe er einen Fremden. »In Dublin, Mutter«, antwortete er kurz.
»In Dublin? Was hast du denn zwei Jahre in Dublin gemacht?«
»Ich habe Irland kennengelernt. Ein Land, das nicht frei sein darf, das seit Jahrhunderten nur Unterdrückung und Fremdherrschaft kennt. Durch uns, seine englischen Nachbarn.«
In Grace’ blauen Puppenaugen flackerte Panik. »Du hast doch nichts mit der IRA zu tun? Junge, tu uns das nicht an! Bitte nicht!«
Mitleidig betrachtete Alan das weiche, blasse Gesicht seiner Mutter, die gepflegten blonden Haare, das zarte Stupsnäschen. Das Leben dieser Frau spielte sich zwischen Friseur und Kosmetikerin, Einkaufsbummel und Theaterbesuchen ab, und die einzige kleine Flamme, die in ihr brannte, war ihre abgöttische Liebe zu Steve. Aber von dem wirklichen Feuer wußte sie nichts, von dem Feuer des Kampfes, in dem man verbrannte, starb, zu Asche wurde. Ahnte sie etwas von der fanatischen, verzehrenden Kraft, die einen Menschen durchströmt, wenn er sich ganz und gar einer Idee hingibt? Nein, Grace Marlowe ahnte nichts, und sie würde es nie ahnen.
Kurz nach Alans Rückkehr explodierte im Auto eines englischen Politikers eine Bombe; durch einen glücklichen Zufall saß der Mann, dem der Anschlag gegolten hatte, nicht im Wagen, und es wurde niemand verletzt. Zu dem Attentat bekannte sich die IRA, und Alan gehörte zu den Verdächtigen, die man festgenommen, aufgrund mangelnder Beweise aber bald wieder freigelassen hatte. Grace Marlowe erinnerte sich, als sie davon hörte, des harten, fiebrigen Glanzes in den Augen ihres Sohnes, und wußte, daß er beteiligt gewesen war, daß er es eines Tages wieder tun und irgendwann einmal geschnappt werden würde.
Seltsamerweise gab es zwischen Alan und Steve, so unterschiedlich sie waren, eine tiefe Verbundenheit, die stark genug schien, die Wirbelstürme zu überstehen, die Alans komplizierter Charakter immer wieder verursachte. Alan nahm es Steve nie übel, daß er der Liebling der Eltern war, und Steve sagte kein Wort gegen Alans politische Aktivitäten, so beängstigend er sie fand. Er war überzeugt, allen Schwierigkeiten, die Alan erwachsen mochten, aus dem Weg gehen zu können – so, wie er immer allen Schwierigkeiten aus dem Weg gegangen war.
Er wußte noch nicht, daß man im Leben nicht immer ausweichen kann, aber an jenem strahlend schönen Sommerabend, als Alan ihn von Nantes aus anrief, begann er es zu ahnen.
Steve, David, Gina und Natalie hatten das Abschlußexamen bestanden, und es war Ginas Idee gewesen, zusammen nach Frankreich zu fahren. Über Freunde hatte sie ein Ferienhäuschen an der bretonischen Küste, in dem kleinen Ort St. Brevin Les Pins nahe Nantes angeboten bekommen. Es gab ein langes Hin und Her, weil David gerne nach Deutschland gegangen wäre und Natalie von Schottland geträumt hatte, aber schließlich einigte man sich, St. Brevin eine Chance zu geben und machte sich mit zwei Autos und wahren Bergen von Gepäck auf den Weg. »Wer
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