Schattenspiel
Brevin aufgetaucht. Du warst nicht zufällig allein?«
»Ich war nie völlig allein. Ab zehn Uhr waren Natalie und Gina fort, zum Einkaufen in Nantes. Ich verbrachte den ganzen Tag mit David. Wir haben uns bis mittags im Garten gesonnt, dann sind wir zwei Stunden an den Strand gefahren, an der bretonischen Küste entlang, haben in irgendeinem gottverlassenen Dorf etwas gegessen und sind dann weiter. Wir kamen gegen neun Uhr abends zurück.«
»Wie ist dieser David?«
»David? Er ist... nun, er ist ein bißchen schwierig. Unnahbar manchmal, ein bißchen... überheblich.«
»Wo steht er politisch?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, daß er einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hat. Seine Mutter ist Deutsche, ihr Vater wurde von den Nazis umgebracht. Verstehst du, David ist mit dem Bewußtsein aufgewachsen, daß da eine furchtbare Tragödie in der Vergangenheit war und daß wir, ich meine, unsere Generation, verpflichtet sind, dafür zu sorgen, daß sie sich nie wiederholt. Ich glaube, daß gerade David es nicht wollen kann, daß ein Unschuldiger ins Gefängnis muß!«
»Ich wollte niemanden in der Sache haben als dich.«
»Aber vielleicht«, meinte Steve zaghaft, »wäre es gar nicht schlecht, einen zweiten Zeugen zu haben. Da ich dein Bruder bin, wird meiner Aussage möglicherweise nicht allzu viel Gewicht gegeben. Aber wenn David dasselbe sagt...«
»Ich verstehe immer noch nicht ganz, warum David das für mich tun sollte!«
»Davids Geschichte unterscheidet sich von der anderer Leute. Deshalb.«
Kann Steve das beurteilen? fragte sich Alan. Er war müde und frustriert. Sein Instinkt, sein Verstand, seine Erfahrung warnten
ihn, sich auf die unbekannte Größe »David« einzulassen. Sie warnten ihn sogar, sich von Steve ein Alibi konstruieren zu lassen. Er hatte seinen Bruder nicht so naiv, so unreif in Erinnerung gehabt. Das waren Kinder ! Sie hatten gerade die Schule abgeschlossen, verbrachten einen unbeschwerten Sommerurlaub in Frankreich. Was verstanden sie von seinem Leben und seiner Welt?
Aber wenn er kein Alibi bekäme, könnte er weder nach England noch nach Nordirland zurückkehren. Wenn überhaupt jemals, dann nur mit falschem Paß und in der ständigen Angst, entdeckt zu werden. Zudem wußte er nicht mehr, wo Freunde saßen und wo Feinde. Irgend jemand hatte ihn verraten. Wer immer es gewesen war, er könnte es wieder tun. Wo durfte er sich noch sicher fühlen?
Nie zuvor hatte er eine solche Müdigkeit verspürt. Sich nie so elend und schwach gefühlt. Einer seiner Genossen hatte ihm das einmal prophezeit: »Du wirst diese Durchhänger haben, sie sind schauderhaft. Du wirst dich so sehr nach einem normalen Leben sehnen, wie du es dir jetzt gar nicht vorstellen kannst. Du wirst dir wünschen, eine Frau zu haben, Kinder, und in einem netten, kleinen Haus zu wohnen. Einer anständigen Arbeit nachzugehen. Du wirst es dir mehr wünschen als alles andere auf der Welt.«
Er wünschte es sich. Er wünschte es sich tatsächlich mehr als alles auf der Welt. Und er schwor sich, er würde aufhören, wenn er aus dieser Sache heil herauskäme. Nicht, weil sich an seinen Ideen etwas geändert hatte, sondern weil er sich psychisch und physisch am Ende fühlte.
Als er sein Bierglas wieder an den Mund führte, zitterten seine Hände. »Wenn du meinst, es ist richtig, David einzuweihen, Steve, dann tu es«, sagte er.
3
Steve sprach den Eid mit klarer Stimme. »Ich schwöre, daß ich die Wahrheit sagen werde, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit.« Nach einer Sekunde des Zögerns setzte er hinzu: »So wahr mir Gott helfe!«
Die Verhandlung gegen Alan Marlowe fand im Londoner Old Baily unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen statt, und es befanden sich nur wenige zugelassene Zuschauer im Raum. Steve vermied es, den Blicken seiner Eltern zu begegnen, die in der letzten Reihe saßen und aussahen, als begriffen sie noch immer nicht recht, was seit jenem schrecklichen 5. Juli geschehen war. Ihr Sohn des mehrfachen Mordes angeklagt! Sein Foto hatte ihnen aus jeder Zeitung entgegengeblickt, sie hatten anonyme Anrufe bekommen, in denen man sie als »Mördereltern« beschimpfte, Drohbriefe, in denen von Rache und Vergeltung die Rede war. Grace hatte erlebt, wie man beim Friseur über sie tuschelte, und ihr Mann hatte auf der Party eines Geschäftsfreundes einen ganzen Abend lang allein gestanden.
»Alan ist unschuldig«, sagte Grace jedem, ob er es hören wollte oder nicht. »Er war zum Zeitpunkt
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