Schattenspiel
sagte Grace mit erstickter Stimme, »ist nicht mehr mein Sohn.«
»Mum... du kannst nicht ernst meinen, was du da sagst!«
Grace erhob sich. Ihre kleine, zarte Gestalt stand zur vollen Größe gereckt. »Ich kann für Alan nichts tun. Und für dich kann ich jetzt auch nichts tun. Ich bitte dich, Steve...« Ihre Stimme brach, aber sie fing sich wieder. »Mach nicht alles noch schwerer. Du und Alan, ihr könnt nicht ermessen, was ihr uns angetan habt...«
»Mum...« Auch Steve stand auf. Blaß und mager stand er da, hohlwangig, mit aufgeplatzten Lippen. »Muum sag mir, bin ich auch nicht mehr dein Sohn?«
»Steve!« sagte sein Vater erschöpft.
Grace trat einen Schritt auf den Tisch zu, der sie von Steve trennte, neigte sich hinüber und legte den Arm um ihn.
»Halt!« Der wachhabende Beamte protestierte. »Das ist nicht erlaubt!«
Zum letzten Mal fühlte sich Steve von weichen, starken Armen umfangen, zum letzten Mal roch er den zarten Duft des Lavendelöls, zum letzten Mal flutete das Gefühl der Geborgenheit über ihn hinweg, das ihn durch sein ganzes Leben begleitet und
getragen hatte. Zum letzten Mal klammerte er sich an seiner Mutter fest und spürte schon, wie der Boden unter seinen Füßen zu schwanken begann und die alte Sicherheit dahinging. Er hatte Grace verloren. Sie zog sich von ihm zurück, weil er in ihre Welt aus Zuckerguß und Schönheit nicht mehr paßte. Er war krank und verwundet, aber Grace war es auch, und wenn es darum ging, wer von ihnen beiden an seinen Wunden verbluten würde, so würde Grace es nicht sein. Sie hatte beschlossen, sich zu retten.
»Mum«, sagte er noch einmal, und sie lächelte ihm zu, aber es war das berühmte süße Lächeln der Grace Marlowe, das alles versprach und nichts davon ernst meinte. Er schaute ihr nach, wie sie den Raum verließ, geschmiegt in ihren Mantel, zart, schutzbedürftig und zu empfindsam für diese Welt.
Eine schöne Hülle, in der ein unzerbrechlicher Kern ruhte?
»Wiedersehen, mein Junge«, sagte der Vater und streckte seinem Sohn die Hand hin. »Halt dich tapfer!«
»Dad – was wird sein, wenn es vorbei ist? Wenn ich frei bin?«
»Das... werden wir sehen... es ist ja noch so lange hin. Steve, es gibt Dinge im Leben, die tut man und nachher muß man sie verantworten...und es ergeben sich Konsequenzen... wir werden sehen, Steve, was später sein wird...« Er verließ ebenfalls den Raum, ein wenig gebeugt, denn das Leben, so schien es ihm, hatte ihn nicht gut behandelt.
Steve ließ sich in seine Zelle zurückführen, halb betäubt, und so geschlagen, daß sogar Georgio, als er seiner ansichtig wurde, den Mund hielt und sein Opfer für diesen Tag in Ruhe ließ.
Es kam die Nacht, Finsternis senkte sich über die Zelle. Steve lag mit weitoffenen Augen da, lauschte dem ruhigen Atem der Schlafenden. Der Gedanke, daß er seinem Leben ein Ende setzen konnte, wenn er es nicht mehr aushielt, hatte ihn während der letzten Wochen aufrecht erhalten. Immer hatte er gedacht: Gut, ich stehe den Tag heute durch! Vielleicht auch morgen und übermorgen. Aber wenn es dann unerträglich wird, mache ich Schluß.
Er besaß eine Rasierklinge!
Diese Rasierklinge stellte das Wertvollste, Teuerste, Wichtigste dar, was er je besessen hatte. Chris hatte sie ihm geschenkt. Chris war in der Nachbarzelle gewesen, und ein Freund hatte ihm die Klinge ins Gefängnis geschmuggelt, aber er war dann zu feige gewesen, sich das Leben zu nehmen. Seine Haftzeit näherte sich ohnehin ihrem Ende, aber er hatte eine mörderische Angst vor der Zeit danach gehabt, denn er war verurteilt wegen der Verführung einer Minderjährigen, und er wußte, daß man an seinem Arbeitsplatz, daß alle seine Nachbarn davon wußten. Seine Frau hatte die Scheidung eingereicht; daß sie die Kinder bekommen würde, stand fest.
Chris wollte sterben, aber am Tag seiner Entlassung hatte er es immer noch nicht über sich gebracht, und resigniert hatte er Steve die Klinge zugesteckt. »Für dich. Wenn du nicht mehr kannst.«
Die Klinge lag unter Steves Matratze.
Mit einer raschen Bewegung glitt er aus dem Bett, kniete daneben nieder und tastete unter der Matratze herum. Er fand die Klinge und zog sie vorsichtig hervor.
Seine Hände zitterten wie die eines Schwerkranken, er glühte, als habe er Fieber. Kurz kam ihm das Bild seiner Mutter in den Sinn, und der Schmerz wallte erneut auf. Er zögerte eine Sekunde – es würde weh tun, und sein Leben lang hatte er Angst gehabt vor Schmerzen, aber diesmal
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