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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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starke Zähne!« Und schon schrubbte er sie dermaßen rabiat, daß das Zahnfleisch zu bluten begann.
    Steve fürchtete sich vor Birdie am wenigsten, wenn er ihn auch in seiner Dummheit für unberechenbar hielt, aber er hatte Angst vor den beiden anderen, und er wußte, er hatte sie zurecht. Sie haßten ihn von der ersten Sekunde an – wegen seiner Schönheit, seiner Intelligenz, seiner gepflegten Sprache, seiner Vornehmheit. Steve schmatzte nicht beim Essen, las keine Pornoblätter, und es kam nie ein obszönes Wort über seine Lippen. Seine Empfindsamkeit stand ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, daß er die anderen damit provozieren mußte. Miles und Georgio übertrafen einander darin, sich in Steves Gegenwart noch vulgärer zu benehmen als sonst, und sie versuchten ständig, ihn mit Sticheleien zu quälen.
    »Sein Bruder legt Bomben«, sagte Georgio. Er räkelte sich auf einem Stuhl hin und her, und wie immer, wenn er sich langweilte, schoß er auf Steve los. »IRA-Bomben. Von denen Engländer sterben. Schöner Engländer, der so etwas tut, findet ihr nicht?«
    Miles löste sich von Jennie und Jo. »Mieser Engländer, so einer«, stimmte er zu.
    »Am miesesten ist so eine Sache natürlich, wenn kleine Mädchen dabei sterben«, fuhr Georgio fort. »Obermies finde ich das. Was meinst du, Miles?«
    »Einer ist Dreck, der so was macht«, sagte Miles.
    »Und einer, der dann nachher versucht, ihn zu schützen?« fragte Georgio lauernd.
    »Das ist das größte Schwein!« sagte Miles begeistert. Endlich kam ein bißchen Leben in die Bude.
    »Findest du das auch, Birdie?« erkundigte sich Georgio. Birdie saß auf seinem Bett und kritzelte eine nackte Frau auf ein Stück Papier; das war seine Lieblingsbeschäftigung, und er malte sie immer mit übergroßen Brüsten, in denen lange, spitze Pfeile steckten.
    »Ein Schwein«, sagte Birdie, allerdings sagte er das gehorsam und ohne Haß, er sagte es mit der Freude eines Musterschülers.
    Georgio grinste. »Hast du gehört, Steve? Wir finden alle, daß du ein Schwein bist! Was sagst du dazu?«
    Steve lag auf seinem Bett und las in einem Buch, das heißt, er konnte sich schon seit einer Weile nicht mehr konzentrieren und las zum fünften Mal dieselbe Seite, ohne zu begreifen, was dort stand. Er konnte an überhaupt nichts mehr denken als daran, daß er so entsetzlich dringend aufs Klo mußte. Es drängte ihn so sehr, daß sein ganzer Körper schmerzte und ihm der Schweiß ausbrach. Es bedeutete für Steve die schlimmste Folter, vor den anderen die Toilette benutzen zu müssen, weshalb er jedesmal, wenn sich das erste leise Ziehen im Unterleib ankündigte, vor lauter Verzweiflung beinahe in Tränen ausbrach. Um sich der Qual so selten wie möglich aussetzen zu müssen, trank er fast nichts mehr, gerade nur so viel, wie ein Mensch zum Überleben braucht. Er nahm morgens eine Tasse Tee zu sich, versuchte dann, den Tag über ohne etwas auszukommen, und trank abends ein paar Schlucke Wasser. Die Folge davon waren rauhe, aufgesprungene Lippen und ständige leichte Schmerzen in der Nierengegend. Aber die zu ertragen nahm er auf sich, wenn er dafür den entsetzlichen Gang zur Toilette auf ein Minimum reduzieren konnte.
    Gerade als die anderen anfingen, gegen ihn zu sticheln, hatte er beschlossen, nun doch zu gehen, weil er die Schmerzen nicht mehr aushielt, aber nun zuckte er zurück, denn er konnte nicht etwas derart Entwürdigendes tun, während sie so über ihn herzogen. Er preßte die Beine zusammen und biß sich auf die Lippe. O Gott, dachte er, warum muß ich solche Schmerzen haben?
    »He, Steve, du hast mir keine Antwort gegeben«, sagte Georgio. »Aber wir wollen eine Antwort haben. Findest du nicht auch, daß du ein Schwein bist?«
    »Ich hab’s nicht getan«, erwiderte Steve gepreßt,
    Georgio lachte hellauf. »Er hat’s nicht getan! Da liegt er in aller Unschuld, sein Bruder legt Bomben, und er macht ihm Alibis, aber hat nichts getan!«
    Was hast du denn getan! dachte Steve bitter, aber er sagte nichts. In dieser Welt, in der er sich jetzt befand, war er verloren.
Nichts und niemand hatte ihn je auf das vorbereitet, was ihn hier erwartete. Er hatte von dieser Seite des Lebens gelesen, aber im Grunde nie ganz begriffen, daß es sie wirklich gab. Bis jetzt begriff er es nicht. Er war unversehens in einen Alptraum geraten; es war ihm, als müsse er jeden Moment aus einem tiefen Schlaf erwachen und helles Licht in Streifen durch die Jalousien fallen sehen und den

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