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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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kam es ihm vor, als könne nichts gegen seinen Kummer und seine Seelenpein ankommen. Mit schnellen, entschlossenen Bewegungen öffnete er sich die Pulsadern; es war die einzige Tat seines Lebens, bei deren Ausführung er weder zögerte, noch die Meinung von mindestens einem Dutzend anderer Menschen einholte.
    Später erinnerte er sich dunkel, daß er stöhnend in einer Lache von Blut gelegen hatte, verwundert, weil er keine Schmerzen spürte, geschüttelt vom Fieber, das seine Zähne hörbar aufeinanderschlagen ließ. Das Blut war überall: Er schmeckte es auf den Lippen, fühlte es zwischen den Fingern, spürte, wie es seine Stirnhaare feucht verklebte. Warme Nässe breitete sich unter seinem Bauch aus. Die Jammerlaute, die er ausstieß, entsprangen
eher einem Reflex als echtem Elend. Zu seiner Erleichterung war der Tod sanft.
    Dann flammte plötzlich ein Licht auf, und von fern, von ganz weit her, erklang Georgios Stimme: »Verfluchte Scheiße, der Kerl hat sich die Pulsadern aufgeschnitten! Das kann doch nicht wahr sein! Schaut euch diese Schweinerei an!«
    Dann hämmerte jemand gegen die Tür, Schreie hallten durch die Nacht, eine Glocke schrillte. Auf einmal wimmelte es von Menschen, alle um ihn herum, und er hatte den Eindruck, als zerrten sie alle an ihm, aber er konnte sich nicht wehren, weil er zu schwach war.
    Klar registrierte er dann wieder ein einfaches, weißgetünchtes Zimmer, hell und freundlich, aber mit Gittern vor den Fenstern. Er lag in einem hohen Bett, vor ihm auf der Decke ruhten seine Arme. Sie waren von den Fingerwurzeln bis fast zu den Ellbogen mit dickem weißen Mull umwickelt. In den Handgelenken tobte ein stechender Schmerz, im Herzrhythmus pulsierend.
    »Da sind Sie ja wieder«, sagte eine weibliche Stimme. Steve sah eine junge, dunkelhaarige Krankenschwester, die ihn besorgt beobachtete, nun aber zu lächeln begann. »Ich dachte schon, Sie schlagen die Augen gar nicht mehr auf. Wie geht es Ihnen?«
    »Ich habe Durst. Und Schmerzen.«
    »Hier, trinken Sie ein paar Schlucke.« Sie reichte ihm ein Glas. »Was die Schmerzen angeht, so kann ich Ihnen leider im Moment nicht helfen. Warum haben Sie das getan?«
    »Ich wollte sterben. Ich will immer noch sterben.«
    »Was ist geschehen?«
    »Ich will nicht darüber reden.« Er starrte an der jungen Frau vorbei an die Wand. Ich will dir nicht erzählen, daß selbst meine Mutter mich verlassen hat, dachte er feindselig.
    »Kommen Sie mit Ihren Zellengenossen nicht zurecht? Möchten Sie in eine neue Zelle verlegt werden?«
    Steve nickte ohne Anteilnahme.
    »Wissen Sie«, sagte die Schwester, »ich will Ihnen wirklich nicht mit Banalitäten auf die Nerven gehen, aber Sie sollten bedenken,
daß Sie noch jung sind und daß noch viele Jahre auf Sie warten, wenn Sie aus dem Gefängnis kommen. Es lohnt sich nicht, das Leben jetzt wegzuwerfen. Es steht noch zuviel Schönes für Sie bereit.«
    »Es wird nichts mehr schön sein. Das weiß ich.«
    »So sollten Sie nicht reden.«
    »Ich werde für alle Zeiten das Gefängnis mit mir herumtragen. Es gibt Alpträume, die bleiben für immer lebendig.«
    »Aber sie verblassen.«
    Was weißt du schon, dachte Steve erschöpft.
    Er fing an zu weinen. Er weinte aus Entsetzen, aus Furcht und Verzweiflung, und dann dachte er an David, und schließlich weinte er auch aus Haß.

Natalie
    1
    Als Natalie bereits eine erfolgreiche Journalistin und in mehreren Ländern Europas sowie den USA bekannt war, wurde sie von dem Chefredakteur einer großen amerikanischen Zeitschrift gebeten, über sich selbst einen Text zu verfassen.
    »Wissen Sie«, sagte er, »so nach dem Motto: Wie ich mich selber sehe.«
    Natalie wußte, daß er auf pikante Enthüllungen hoffte, denn allgemein war bekannt, daß sie lesbisch war, und von der Lebensbeichte einer Lesbierin erwartete man Prickelndes. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb:
    »Ich bin Natalie Quint. Geboren 1960 in Somerset, England. Ich wuchs auf dem Landsitz auf, der sich seit Generationen im Besitz unserer Familie befindet; es handelt sich um eines jener elisabethanischen Herrenhäuser, die von Touristen glühend bestaunt werden und in Wahrheit entsetzlich unpraktisch sind, riesengroß, zugig und schlecht zu heizen. Das Land ringsum liebte ich, auch die Pferde und Hunde, die meines Vaters Stolz waren. Meine Mutter konnte sich weder besonderer Schönheit, noch einer herausragenden Intelligenz rühmen, was sie durch beharrliche Pflege ihres Äußeren und durch

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