Schattenspiel
einsetzte. Die ganze erste Woche verbrachte man damit, in erbitterten Streitgesprächen herauszufinden, wer für die Wahl von St. Brevin letztendlich verantwortlich zu machen war.
David und Steve vertrieben sich die Zeit, indem sie mit dem Auto in der Gegend herumfuhren und Ausschau nach hübschen Mädchen hielten, ohne jedoch fündig zu werden, wie man aus den frustrierten Mienen, mit denen sie abends zurückkehrten, schließen konnte. Natalie verzog sich an den Heizofen im Wohnzimmer; sie hatte beschlossen, für eine Zeitschrift eine Kurzgeschichte zu schreiben und arbeitete mit großer Energie daran. Sie deckte sich mit Schokoladenkeksen ein, die sie selbstvergessen vor sich hinknabberte, ihr Tagesverbrauch entsprach etwa dem einer fünfköpfigen Familie.
Wie üblich zeigte sich Gina ihrer eigenen Unruhe wehrlos ausgeliefert. Sie blieb bis mittags im Bett, allerdings ohne zu schlafen; sie holte sich nur eine Tasse Kaffee nach der anderen aus der Küche, schlürfte sie langsam vor sich hin und starrte dabei trübsinnig hinaus in den Nebel, auf die Mündung der Loire in den Atlantik und auf die schattenhaften Umrisse der Brücke von St. Nazaire. Wenn sie sich schließlich aufgerafft hatte, das Bett zu verlassen, sah sie sich mit einem anderen Problem konfrontiert: der Kälte. Da sie weder Wolle auf ihrer Haut noch irgendwelche schweren Kleidungsstücke am Körper ertrug, hatte sie auch diesmal wieder nur ein paar Seidenfähnchen und luftige Sandalen mitgenommen. Sie zitterte vor Kälte und lief meistens mit einer Decke um die Schultern herum, was ihr das Aussehen einer Squaw verlieh. In der nebelfeuchten Luft kräuselten sich ihre Haare zu einer Unzahl kleiner Locken, die bis zur Taille hinabfielen und manchmal aussahen, als habe die Trägerin es aufgegeben, sie zu kämmen.
»Es wird Kälte sein, woran ich eines Tages sterbe«, murmelte Gina, und Natalie gab in Gedanken versunken zurück: »Ich möchte wissen, warum es so verdammt schwer ist, eine anständige Geschichte zu schreiben!« Sie fuhr sich mit fünf Fingern durch ihr kurzgeschnittenes blondes Haar, so daß es wirr in alle Himmelsrichtungen von ihrem Kopf wegstand. Dann kroch sie näher an das Feuer, kuschelte sich gegen die grünen Kacheln des Kamins wie eine Katze in eine Sofaecke und vertiefte sich in die bekritzelten Seiten ihres Notizblocks.
Als das Wetter umschlug, atmeten sie alle auf. Beinahe von einem Moment zum anderen blies ein kräftiger Wind vom Atlantik die Wolken auseinander; auf einmal leuchtete der Himmel blau und die Sonne schien, und dann wurde es so heiß, daß man es überhaupt nur noch im Wasser oder im Schatten aushielt. Unter den blühenden Zweigen eines Jasminbusches beendete Natalie ihre Kurzgeschichte, und Gina verließ endgültig ihr Bett, schlüpfte in ein hauchfeines Seidenhemdchen mit Spaghettiträgern und ein Paar Shorts aus weicher Baumwolle und fühlte sich endlich zu neuen Taten bereit.
Sie trat auf die Terrasse, wo Natalie soeben einen Brief an ihre Mutter geschrieben hatte und ihn ebenso erschöpft wie frustriert adressierte.
»Nat, ich finde, wir haben hier lange genug herumgesessen. Irgendwo in diesem gräßlichen Ort gibt es eine Bushaltestelle, und wir sollten sehen, ob wir einen Bus nach Nantes finden. Ich werde verrückt, wenn ich immerzu nur Ferienhäuser und dickbäuchige Sommerfrischler sehe!«
Natürlich ging an diesem Tag kein Bus mehr, und so fuhren sie am nächsten Morgen, in einem vorsintflutlichen Gefährt, eingeklemmt zwischen einer ganzen Horde einheimischer Frauen, die die beiden Mädchen mißtrauisch musterten.
Es war der 4. Juli, jener Tag, an dem Alan Marlowe in den frühen Abendstunden eine Bombe in der Damentoilette des »Black Friars« in Plymouth legen würde. Weder Gina noch Natalie ahnten, daß ihr Entschluß, den Tag in Nantes zu verbringen, die Voraussetzung dafür schuf, ein Alibi für Alan zu konstruieren.
»Ich möchte«, sagte Gina plötzlich, »meine neue Jeans anziehen. « Sie gingen durch eine unterirdische Einkaufspassage, beladen mit Tüten und Taschen, in denen sich hauptsächlich unnötiges Zeug befand, von dem sie später in England nicht mehr wissen würden, warum sie es hatten haben müssen. Gina hatte sich neue Jeans gekauft, so eng, daß es ihr im Laden selbst unter der tatkräftigsten Hilfe von Natalie und zwei Verkäuferinnen nur schwer gelungen war, sich hineinzuzwängen.
»Vielleicht sollten Sie doch eine Nummer größer nehmen«, hatte die eine
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