Schattenspiel
»Bellino«, sagte er mit seiner schönen, klangvollen Stimme.
»David? Hier ist Natalie.«
Nach einer Sekunde überraschten Schweigens schrie David auf. »Nat! Gibt es dich noch?« Seine Freude wirkte nicht gespielt, und schuldbewußt begriff Natalie, daß er wahrscheinlich sehr darunter gelitten hatte, von seinen Freunden geschnitten zu werden. Sie plauderten eine Weile über belangloses Zeug, Natalie erzählte von ihrem Job und David von seinem Studium. Schließlich kam Natalie auf den Grund ihres Anrufs zu sprechen.
»Ich mache eine Reisereportage über Cornwall. Und ich brauche einen Fotografen. Ich dachte, wenn du Zeit hättest, könntest du mich begleiten.«
»Ich bin aber kein Fotograf!«
»Du hast eine phantastische Kamera, und du hast immer traumhafte Bilder gemacht!«
»Ich weiß nicht...«
»David!«
»Wann? Und wie lange?«
»Wir müßten schon am Donnerstag aufbrechen. Für fünf Tage.«
»Hm...ich müßte sagen, ich sei krank...das ginge vielleicht.«
»David, es wäre wunderbar, wenn du das tun würdest! Ich möchte viel lieber mit dir fahren als mit irgendeinem Fremden!« Natalie merkte jetzt, wie wichtig es ihr war. Sie fühlte, wie vertraut ihr Davids Stimme war, die sie an eine Zeit erinnerte, die schön und sorglos gewesen war.
»Komm, David. Sag ja!«
David, der es wegen seiner komplizierten Art auf der Uni nicht leicht hatte, Kontakte zu schließen, war so ausgehungert nach Freundschaft, daß er in Windeseile »Ja« sagte.
Das Wetter war wunderbar. Sie fuhren über schmale Landstraßen, die rechts und links von Mauern umgrenzt, von Hecken und Bäumen überwuchert und beschattet waren. Sie kamen durch idyllische kleine Dörfer, die noch so aussahen wir vor hundert Jahren, in denen magere Katzen herumhuschten und mißtrauische, cornische Fischer aus ihren Häusern sahen. Uralte Kirchen, grau und moosbewachsen, beherrschten grüne Hügel und schattige Friedhofsgärten. Eine vergangene Zeit lebte in diesem Land, die Gegenwart schien irgendwo hinter den Felsen am Meer versunken, und David und Natalie stellten übereinstimmend fest, daß es sie beide nicht wundern würde, wenn plötzlich ein schwarzer Ritter auf einem schwarzen Pferd seitlich aus den Büschen geprescht käme.
David fuhr meistens, zum einen, weil es sich um sein Auto
handelte, zum anderen, weil sich Natalie so beim Fahren Notizen machen konnte. Sie wollte nach Tintagel, um König Artus’ Burg zu sehen, durch das Bodmin-Moor, wo das berühmte »Jamaica Inn« steht, hinunter in das Fischerstädtchen St. Ives, nach Land’s End und zum St. Michaels Mount, tief in das Dartmoor hinein und nach Plymouth. Sie hatte alles über Cornwall gelesen, und in ihrem Kopf schwirrte es von Piratengeschichten und Sagen, von greulichen Bluttaten und romantischen Märchen. Sie schrieb einen Notizblock nach dem anderen voll und hatte sich selten so gut gefühlt. Schaudernd erinnerte sie sich der Fahrten mit den anderen Fotografen; sie hatte völlig verkrampft neben ihnen gesessen und immer wieder verstohlen an ihrem Rocksaum gezupft, damit er bis zum Knie reichte und bloß keinen Blick auf ihre Oberschenkel erlaubte. Sie hatte ihre Beine zusammengepreßt und immer die begehrlichen Augen auf sich gespürt.
Mit David konnte sie reden, lachen, schweigen. Sie konnte neben ihm im Auto einschlafen oder einfach plötzlich ihre Strumpfhose ausziehen, weil die Sonne gar so heiß brannte. Sie fühlte sich frei; wieder einmal dachte sie, wie gut es gewesen war, daß sie die Sicherheit ihres beschützten Daseins aufgegeben und sich gegen ihre Eltern durchgesetzt hatte.
Sie und David gingen immer vertrauter miteinander um, so daß sie schließlich aufhören konnten, unangenehme Themen zu vermeiden. Sie redeten sogar über die Freunde, eines Abends, als sie in Tintagel im King Arthur’s Castle saßen, einer nostalgisch zurechtgeputzten Touristenkneipe, in der die Luft erfüllt war vom Schreien der Gäste und dem Qual ungezählter Zigaretten. Vorher waren sie über die Felsen am Meer gelaufen, die König Artus’ Schloß getragen haben sollten, sie hatten zugesehen, wie die Brandung gegen die Klippen schlug und die Strandhöhlen überflutete, wie die Sonne unterging und Abendrot sich über die Hügel legte. Später, beim Wein, fing Natalie an, ganz unbefangen über Gina zu reden.
»Sie ist wirklich nach Amerika gegangen, wie sie es immer vorhatte. Sie lebt irgendwo mitten in Manhattan und verdient
ihren kärglichen Lebensunterhalt damit, daß sie
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