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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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vergewaltigte, aber dann sah sie, wie sich die Finger von Maxines rechter Hand bewegten, sich zusammenkrampften, bis die Knöchel wie Spieße hervorsahen. Natalie konnte nicht länger hinsehen. Ihre Blicke glitten durch das Zimmer, und sie entdeckte Duncan, der bäuchlings unter dem Waschbecken lag, Arme und Beine in absurden Verrenkungen von sich gespreizt. Sein Kopf ruhte in einer Blutlache. Er war zweifellos tot.
    Bei allem Entsetzen weckte dieser Anblick eine Spur von Hoffnung in Natalie. Sie hatte nur einen Schuß gehört, und wenn sie Duncan erschossen hatten, dann lebte David vielleicht noch. Sie mußte von diesem verdammten Balkon hinunter. An Maxine konnte sie sehen, was sie erwartete, wenn sie blieb. Sie schaute noch einmal zu ihr hin, und nie vorher war es ihr so deutlich bewußt gewesen, daß das Leben seine Alpträume stets mit sich herumtrug und jederzeit bereit war, sie ans Tageslicht zu holen. Sie wollte sich abwenden, da sah sie, wie der Vergewaltiger von Maxine herabrutschte. Das nun folgende geschah so rasch, daß sie es kaum fassen konnte: Während der eine Mann neben Maxine
liegenblieb, schnell atmend und zunächst einmal außer Gefecht, griff der andere unter Maxines Kinn, hob es an und zu sich hin und schnitt ihr mit einer einzigen, sachlich wirkenden Bewegung die Kehle durch.
    Natalie hielt sich an der Hauswand fest und erbrach ihr Abendessen, dann kletterte sie über die Balkonbrüstung und sprang in den Abgrund. Zwischen den Fingern spürte sie taufeuchtes Gras, ihre nackten Knie lagen in frischgeharkter Erde. Sie mußte sich ein zweites Mal übergeben.
    Als sie aufstand, wurde ihr schwarz vor den Augen, aber sie wehrte sich energisch gegen die aufkommende Ohnmacht. Trotz des Grauens gab es noch irgendeinen wachen Instinkt in ihr, der ihr befahl, sich auf den Füßen zu halten und um ihr Leben zu laufen. Sie wankte um das Haus herum nach vorne in den Hof, und dort wäre sie beinahe in Tränen ausgebrochen vor Erleichterung, denn sie sah David, der aus dem Haus kam; er sah aus, als sei er betrunken, aber später erfuhr sie, daß er einen Faustschlag gegen die Schläfe bekommen hatte. In jenem seitenlangen Brief, den er ihr – ebenfalls später – schrieb, und in dem er ihr alles zu erklären, sich zu rechtfertigen suchte, sagte er, er sei halb besinnungslos gewesen und habe nicht begriffen, wer da aus dem dunklen Garten auf ihn zugekommen war. Er habe geglaubt, einen Verbrecher vor sich zu haben. Aber Natalie, die immer und immer wieder jene Sekunden in ihrem Gedächtnis rekonstruierte, war völlig sicher, daß der Blick, mit dem er sie angeschaut hatte, klar war, und daß er sie in dem Moment, da er sie sah, auch erkannte. Sie beobachtete, wie er mit zitternden Fingern die Autotür aufschloß und sich auf den Fahrersitz fallen ließ. Jetzt unbekümmert darum, ob man sie vom Haus aus sehen konnte oder nicht, rannte Natalie zum Auto hin. Sie wollte die Beifahrertür aufreißen, aber sie war noch verriegelt. Sie hämmerte mit den Fäusten gegen die Fensterscheibe. »David! Mach auf, David! Laß mich’rein, schnell!«
    Der Mond schien genau auf sein Gesicht, als er es ihr jetzt zuwandte, und sie konnte seine weit aufgerissenen, verstörten Augen sehen. Er war so bleich, wie es ein Mensch nur sein konnte.

    »David!« War es wirklich ihre Stimme, die da schrill durch die Nacht klang und sich beinahe überschlug? »David, in Gottes Namen, mach die Tür auf!« Sie schlug wieder gegen die Scheibe, und diesmal schoß ein scharfer Schmerz durch ihre Hand und den ganzen Arm hinauf. Später stellte sich heraus, daß sie den kleinen Finger gebrochen hatte, aber im Moment ließ es ihre Angst nicht zu, daß sie sich dem Schmerz auch nur einen Augenblick lang hingab. Sie schrie Davids Namen so laut sie nur konnte, während sie fassungslos zusah, wie er das Auto startete und auf die Einfahrt zuschoß. Sie hörte die Reifen quietschen, als er um die Ecke auf die Straße schleuderte, und dann preßte ihr auch schon jemand die Hand auf den Mund und zerrte sie ins Haus.
     
    Natalie war immer überzeugt gewesen, sie werde es nicht überstehen, wenn man sie vergewaltigte. Es war zwischen ihr, Gina und Mary früher in Saint Clare ein beliebtes Gesprächsthema gewesen, einander auszumalen, was für jede von ihnen das Schlimmste im Leben wäre. Gina hatte zu dieser Zeit allnächtlich unter dem Alptraum gelitten, an einem ominösen, großen Gegenstand in ihrem Mund zu ersticken, und war davon aufgewacht, daß sie

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