Schattenspiel
verschwunden.
Natalie richtete sich verwirrt auf und angelte über den schlafenden David hinweg dessen Armbanduhr vom Nachttisch. Das Leuchtzifferblatt zeigte kurz nach zwei Uhr an. Sie mußten eine ganze Weile geschlafen haben.
»David!« Sie konnte seinen ruhigen Atem hören. Vorsichtig rüttelte sie ihn an den Schultern. »David! Wach auf!«
Er gab ein leises, verschlafenes Brummen von sich. »Was ist denn?«
»David, hast du die Haustür abgeschlossen?«
»Was?«
»Ob du die Haustür abgeschlossen hast?«
»Die Haustür?« David fand nur äußerst schwerfällig in die Wirklichkeit.
»Ja, die Haustür! Hast du sie abgeschlossen?«
»Nein. Ja. Ich weiß nicht...«
»Was heißt das, du weißt es nicht? Ich habe mich darauf verlassen, daß du abschließt!« Jetzt erst wurde Natalie richtig klar, daß sie einen Schatten vor dem Fenster gesehen hatte. »David, dann ist die Haustür womöglich noch offen!«
David wollte nichts anderes als schlafen. »Bitte, Nat, mach doch nicht so einen Zirkus! Wir sind hier auf dem Land, da ist es üblich, daß man die Türen nicht abschließt.«
»Es ist aber jemand draußen!«
»Du hast schlecht geträumt«, sagte David und gähnte.
Natalie stieg aus dem Bett und griff ihren Bademantel. »Ich schließe ab. Ich habe sonst kein gutes Gefühl.«
Der Mond schien hell genug, so daß sie kein Licht brauchte. Sie trat in die Halle, ging zur Haustür und rüttelte an der Türklinke. Sie gab nicht nach. Also hatte David doch abgeschlossen. Und überhaupt habe ich wahrscheinlich wirklich geträumt, dachte sie müde.
Die Tür des anderen Gästezimmers, das ebenfalls im Erdgeschoß
lag, ging auf. Mit einer Taschenlampe in der Hand erschien die alte Lehrerin auf der Schwelle, eine magere Person im bodenlangen Morgenmantel, der die aufgelösten grauen Haare den Rücken hinunterhingen.
»Ist da jemand?« Sie hatte eine hohe, etwas durchdringende Fistelstimme.
»Ich bin es nur.« Der Lichtstrahl der Taschenlampe blendete Natalie, abwehrend hob sie die Arme. »Ich bin Natalie Quint. Wir wohnen seit gestern mittag hier. Ich wollte nur nachsehen, ob die Tür verschlossen ist.«
»Haben Sie auch diese merkwürdigen Geräusche im Haus gehört?«
»Nein. Was für Geräusche?«
»Ich dachte, eine Fensterscheibe sei kaputtgegangen. Es hörte sich an wie klirrendes Glas.«
»Ich habe nichts gehört«, sagte Natalie, »ich dachte nur, ich hätte einen Schatten draußen gesehen.« Sie kicherte. »Wahrscheinlich sind wir beide etwas hysterisch.«
Die Lehrerin kam schließlich auf den Gedanken, die Taschenlampe sinken zu lassen, so daß Natalie nicht mehr geblendet wurde. Einen Moment lang standen beide Frauen einander unschlüssig gegenüber, dann sagte die Lehrerin: »Es ist nur wegen der Geschichte, die heute früh im Radio...«
Sie kam nicht weiter. Völlig unerwartet, scheinbar aus dem Nichts, tauchte eine schattenhafte Gestalt hinter ihr auf. Mehr verwundert als entsetzt, so, als verfolge sie einen Film, der vor ihren Augen ablief, beobachtete Natalie, wie der Mann, den sie jetzt deutlicher erkennen konnte, der alten Frau ein Messer in den Bauch stieß. Mit einem gurgelnden Laut klappte sie nach vorne und brach in die Knie. Die Taschenlampe fiel krachend auf den Boden und verlosch. Natalie brauchte ein paar Sekunden, um ihre Augen wieder an die Nacht zu gewöhnen. Der dunklen Gestalt am Ende der Halle ging es nicht anders. Einen Moment lang standen sie da, ohne sich orientieren zu können. Dann spürte Natalie, daß der andere sich bewegte, er kam auf sie zu. Sie schrie auf, schrie wie ein Tier in der Falle, und nun endlich
konnte sie etwas sehen. So schnell sie konnte, rannte sie die Treppe hinauf, ohne später genau zu wissen, weshalb sie diesen Weg genommen hatte. Ihr Bademantel war etwas zu lang, und auf der obersten Stufe stolperte sie über den Saum und fiel hin. Plötzlich strahlte helles Licht auf, offenbar hatte der Mann den elektrischen Schalter gefunden. Aus den Augenwinkeln konnte Natalie sehen, daß zwei weitere schwarzgekleidete Männer in der Halle waren und daß der Dritte pfeilschnell hinter ihr her die Treppe hinaufkam. Auf allen vieren krabbelte sie ins Bad, warf in letzter Sekunde die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel um. Von draußen schlug jemand dagegen, das dünne Holz ächzte bedenklich. Natalie rutschte zu Boden, am ganzen Körper wie Espenlaub zitternd. Langsam wurde ihr klar, was sie gesehen hatte – eine alte Frau war vor ihren Augen
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