Schattenspiel
mit Mr. Richard gesprochen.« Mr. Richard besaß einen Gemischtwarenladen im Dorf. »Er braucht jemanden, der die Schreibarbeit für ihn erledigt. Er hat sich bereit erklärt, dich anzustellen und dir beizubringen, was du noch nicht weißt. Zahlen wird er nicht schlecht. Mr. Richard ist ein großzügiger Mann.« Tante Joyce machte ein Gesicht, als sei das ihr Verdienst. Edelmütig fügte sie hinzu: »Du kannst weiterhin hier wohnen, wenn du mir ein wenig zur Hand gehst.«
Gina starrte die Tante einen Moment lang entgeistert an, dann brach sie in lautes Lachen aus. »Tante Joyce, das ist ja wohl nicht dein Ernst! Du bist wirklich die reizendste Person, die ich kenne! Glaubst du, ich bin jahrelang auf eine Schule wie Saint Clare gegangen und habe mich durch sämtliche Examina gekämpft, um jetzt im Gemischtwarenladen dieses Mr. Richard zu versauern?«
»Ein Universitätsstudium kannst du dir nicht leisten, das weißt du genau!«
»Vielleicht nicht. Aber die Welt ist groß. In diesem gräßlichen Nest brauche ich jedenfalls nicht zu bleiben.«
Tante Joyce verfärbte sich gelb, seit ihrer Gallengeschichte tat sie das immer, wenn sie sich erregte. »Ich habe noch nie einen so
undankbaren Menschen wie dich erlebt, Gina. Nach allem, was ich für dich...«
»Was du für mich getan hast?« Gina verzog höhnisch das Gesicht. »Gelebt habe ich vom Geld meiner Großmutter. Und meine Zeit in deinem Haus habe ich damit verbracht, dir eine kostenlose Putzfrau und Krankenschwester zu sein. So liegen die Dinge!«
Joyce setzte an und suchte nach einer passenden Erwiderung. Schließlich fragte sie langsam: »Und wo gedenken die junge Dame ihr Glück zu suchen?« In diesem Augenblick stand für Gina fest, daß sie den Plan, der ihr lange schon im Kopf herumspukte, verwirklichen würde.
»Ich gehe nach New York«, sagte sie gelassen.
Nun war es Joyce, die höhnisch lachte. »Ausgerechnet! Nach New York! Dir ist wohl klar, daß du da drüben untergehen wirst, ein junges, unerfahrenes Ding wie du! Das ist so sicher wie nichts sonst auf der Welt!« Und dann fügte sie hinzu, was sie immer so gern sagte: »Glaub nicht, daß ich dir auf die Beine helfen werde, wenn du im Dreck liegst!«
»Das hätte ich von dir sowieso nie erwartet«, erwiderte Gina, und das waren die letzten Worte, die zwischen ihr und Joyce gesprochen wurden, denn als Gina viele Jahre später aus Amerika zurückkehrte, war Joyce an einem vereiterten Blinddarm gestorben, und Onkel Fred saß in einer Trinkerheilanstalt und kämpfte sich durch seinen dritten Entzug.
Gina hob die letzten 500 Pfund ab, kaufte ein Flugticket und steckte die restlichen Scheine zuunterst in ihre Handtasche. Schließlich rief sie Charles an, um ihn von ihren Plänen zu unterrichten. Erwartungsgemäß reagierte er entsetzt. »Gina, Manhattan ist das gefährlichste Pflaster der Welt! Du hast keine Ahnung, was dich erwartet!«
»Ich war schon mit einem Jahr in New York«, gab Gina schnippisch zurück und dachte an ein Foto, das sie in Jennifers Armen vor dem Empire State Building zeigte.
Charles’ Stimme klang leise und verzweifelt. »Ich habe Angst um dich, Gina, wirklich. Du gehst da hin ohne einen Job, ohne
jemanden zu kennen, mit lächerlichen 300 Pfund in der Tasche. Was machst du, wenn du krank wirst? Oder wenn dich jemand bestiehlt? Oder...«
»Charles, du kannst keine Versicherung für jede Lebenslage abschließen. Mir kann hier genausogut etwas zustoßen wie drüben. Man fällt auf die Füße oder man tut’s nicht, und dann sieht man weiter.«
»Wenn du hier fällst«, sagte Charles, »stehe ich neben dir und fange dich auf.«
Gina war versucht zu erwidern »Du brauchst selber jemanden, der dich auffängt, Charles«, aber sie verschluckte es. Statt dessen sagte sie: »Ich weiß das. Und auch wenn ich drüben bin, wird es mir guttun zu wissen, daß ich hier einen Freund habe.«
»Ich wäre gern mehr als ein Freund für dich, Gina. Und ich werde mein Leben lang auf dich warten.«
Als sie den Telefonhörer aufgelegt hatte, spürte Gina für ein paar Sekunden den Anflug eines schlechten Gewissens, aber dann sagte sie sich, daß sie ihm schließlich nie Hoffnung gemacht habe und nichts dafür konnte, daß sie seine Gefühle nicht erwiderte. Sie schüttelte jeden Gedanken an Charles Artany ab und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag.
New York nahm sie mit den langen Armen eines gewaltigen Kraken auf, hielt sie fest umschlossen und drohte sie im ersten Moment zu
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