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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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ersticken. Gina sah die Obdachlosen in der Subway und am Straßenrand, sah sie die Abfalleimer durchwühlen und von eiligen Passanten beiseite gestoßen werden, und sie begriff, daß der Graben, der sie von ihnen trennte, schmal war. Sie hatte sich in einem billigen Hotel in der 22. Straße ein Zimmer gemietet, und sie probierte während ihrer ersten Wochen sämtliche spottbilligen Kneipen in Soho und Chinatown aus, wo man für einen Dollar ein halbwegs genießbares Essen bekam. Ihr Kampf in den ersten sieben Tagen bestand darin, sich einigermaßen anständig zu ernähren und mit dem Gefühl grenzenloser Verlassenheit fertig zu werden, das sie jeden Morgen unweigerlich befiel, sobald sie die Augen aufschlug, und das sie abends erst wieder verließ,
wenn sie irgendwann spät und mit knurrendem Magen einschlief. Sie hastete die Fifth Avenue hinauf und hinunter, schwindelig vom Anblick der unzähligen Menschen und Autos, halb taub vom Hupen und Schreien überall. Sie wurde in der Subway fast zu Tode gequetscht und mußte sich in Chinatown übergeben, weil der Gestank aus einem der Restaurants ihr den Magen hob. Sie fuhr durch ganz Manhattan hinauf zu den Cloisters des John D. Rockefeller, fühlte sich für Augenblicke nach Europa zurückversetzt, wanderte allein am Ufer des Hudson entlang, träumte den amerikanischen Traum und fragte sich, wo sein Herz schlug, wo sie es suchen sollte. Sie stand auf dem Dach des World Trade Center, inmitten fotografierender Touristen, spürte gnadenlose Einsamkeit, blickte auf Manhattan und stieß dabei leise zwischen den Zähnen hervor: »Ich hasse dich! Ich hasse dich so!«
    Vierzehn Tage lang war es, als schlage New York sie langsam k. o. Aber Gina kam Tag für Tag wieder auf die Füße, und dann gab die Stadt es auf, nach ihr zu beißen und öffnete die Arme. Gina ging durch den Central Park in der Nachmittagsdämmerung, es war noch einmal beinahe spätsommerlich warm geworden, sie war müde und hungrig, und aus irgendeinem Grund schienen alle Leute um sie herum zu lächeln. Manche joggten, Jugendliche spielten Baseball, andere kickten laut scheppernd Cola-Dosen herum oder schauten einem Jongleur zu, der Kunststücke mit Bällen und Kugeln vorführte. Lautes Hundegebell mischte sich mit den vielen hundert Stimmen. Ringsum zeichnete sich die Skyline der Wolkenkratzer scharf gegen den blauen Abendhimmel ab. Es roch nach gebratenen Würstchen, Pommes frites und welkem Laub. Gina trottete auf schmerzenden Füßen am Rande des Footballfeldes entlang, als plötzlich eine dicke, alte Negerin ihr in den Weg trat und »Hello« sagte. Gina stockte, dann erinnerte sie sich, woher sie die Frau kannte. Sie hatten sich drei Tage zuvor in einem vollkommen überfüllten Restaurant im Village einen Tisch geteilt, und der Alten war die Ketchup-Flasche umgefallen. Gina hatte ihr mit Taschentüchern ausgeholfen, darüber waren sie ins Gespräch
gekommen. Die Alte hieß Peggy, hatte einen Sohn und arbeitete als Putzfrau. Sie war ganz fasziniert, als sie hörte, daß Gina aus England kam.
    Sie konnten es als einen grandiosen Zufall betrachten, sich in dieser Stadt plötzlich wiedergetroffen zu haben, aber für Gina war es mehr. Während sie in Pegs dunkles, freundliches Gesicht blickte, legte sich Balsam auf ihr heimwehkrankes Gemüt, und auf einmal verlor das brutale Bild, das sie sich von New York gemacht hatte, seine harten Konturen, und sie sah den klaren Himmel, die Menschen, die Wolkenkratzer, und sie nahm den stürmischen Atem der Stadt wahr. Ich bin in Amerika, dachte sie, ich bin dort, wo ich mein Leben lang sein wollte!
    Peggy, der das Aufleuchten in Ginas Gesicht nicht entging, sagte: »Das ist ein schöner Tag, finden Sie nicht?«
    »Wirklich«, erwiderte Gina. Dann beschloß sie, sich und Peggy zu einer Portion Pommes frites einzuladen.
    Peggy war eine einfache Frau und ganz sicher nicht als Herzensfreundin für Gina geeignet, aber in mancher Hinsicht erwies sie sich als recht nützlich. Kurz nach Silvester – die achtziger Jahre hatten begonnen, und Gina hatte die festlichen Tage besser überstanden als gedacht – vermittelte sie Gina an ein älteres Ehepaar, das in der 32. Straße East lebte und ein Zimmer untervermietete, was sich als immer noch billiger herausstellte als das Hotel. Und im Februar verschaffte sie Gina einen Job, der zwar seltsam war, ihr aber immerhin regelmäßig ein paar Dollar brachte: Sie half einem Maler, der im Schnellverfahren kitschige Kolossalgemälde von alten

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