Schattenstürmer
Herrn noch nicht kennengelernt! Ganz zu schweigen vom Sendboten des Herrn! Wenn ich nur an ihn dachte, befiel mich eine solche Panik, dass ich mir die eigene Hand abgerissen hätte, wenn ich ihm nur niemals wieder zu begegnen bräuchte und seine Stimme nicht wieder hören müsste.
Schweigend ordnete ich meine Gedanken. Ich rede nicht gern mit anderen über mein Leben. Je weniger die Leute über dich wissen, desto besser bist du gegen Überraschungen gefeit. Diese Weisheit hatte mir For schon vor langer Zeit eingebläut, und mit den Jahren war ich dahintergekommen, dass mein alter Lehrer recht hatte. Niemand in Awendum wusste, was Garrett der Schatten fühlte und wen er mochte. Deshalb konnte niemand Freunde oder Verwandte von mir vor seinen Karren spannen, um Druck auf mich auszuüben. Mit einem Schlag in den Rücken brauchte ich nicht zu rechnen.
Dem wortkargen Garraker traute ich, ja, er war sogar einer der wenigen Menschen, denen ich mein Herz auszuschütten bereit war, denn ich wusste, er würde über alles, was er von mir erfuhr, Stillschweigen bewahren.
»Wir waren seit frühester Kindheit Freunde«, holte ich aus. »Zwei ewig hungrige und verdreckte Jungen aus den Armenvierteln Awendums. Wir haben viel zusammen durchgemacht. Hunger, kalte Winter und dann die Zusammenstöße mit der Wache. Nichts blieb uns in diesen Jahren erspart! Bass und ich haben uns irgendwie durchgeschlagen, bis uns ein Meisterdieb unter seiner Fittiche genommen hat. Sein Name war For. Dieser Mann hat uns jede Menge beigebracht. Er hat mir alles eingetrichtert, was ein guter Dieb wissen muss, um am Ende von der Gilde den Titel Meister zuerkannt zu bekommen. For hat gesagt, ich hätte eine natürliche Veranlagung zum Stehlen. Vielleicht stimmt das sogar. Bei Bass war dies übrigens anders. Als wir auf der Straße lebten, habe ich den Leuten in die Taschen gefingert, nicht er. Außerdem ist Bass früh den Karten und dem Würfelspiel verfallen. For hat es irgendwann aufgegeben, einen Dieb aus ihm zu machen. Ein paarmal hat Bass haushoch verloren und echte Schwierigkeiten bekommen. Doch For konnte ihn immer wieder rauspauken, denn in der kriminellen Welt Awendums hatte er damals einiges zu sagen. Aber irgendwann brachte Bass das Fass zum Überlaufen. Mein Freund blieb Markun eine enorme Summe schuldig. Der Mann war lange das Oberhaupt der Diebesgilde in Awendum. Bass hat weder mir noch For ein Sterbenswörtchen davon gesagt. Er hat nur einfach unser Geld genommen und sich verdrückt. Er hat tatsächlich uns, seinen Lehrer und seinen Freund, bestohlen! Es kursierten zwar Gerüchte, Markuns Männer hätten ihn unter die Piers befördert, aber seine Leiche wurde nie gefunden. In den vergangenen zwölf Jahren haben For und ich Bass für tot gehalten. Andernfalls hätte er sich doch bei uns gemeldet! Und jetzt das! Nach all dieser Zeit treffe ich ihn in Ranneng! Gesund und munter!«
»Das ist doch …«, sagte Aal.
»Habe ich deine Neugier damit befriedigt?«, unterbrach ich Aal.
»Ja, Garrett. Wollen wir hoffen, dass euer Wiedersehen nur ein Zufall war. Hast du die Absicht, mit ihm über alles zu sprechen?«
»Nein. Er hat ein anderes Leben gewählt.«
Aal erwiderte kein Wort, sondern lenkte seine Aufmerksamkeit jetzt auf das, was am Katheder vor sich ging.
Mit dem Folterinstrument in der Hand hielt der Professor den Studenten einen Vortrag. »Wie zu sehen ist, ist der Zahn- und Kauapparat von Gnomen dem des Menschen sehr ähnlich. Freilich gibt es auch Unterschiede: Dazu gehören die Schädelform und die Alveolarfortsätze. Gnome haben einen geraden Biss, ihre Zähne sind deutlich kleiner als bei Menschen, zudem sitzen in jedem Kiefer nur zwölf. Fänge liegen nicht vor, auch das zweite Paar der Prämolaren fehlt. Bedauerlicherweise habe ich keine Möglichkeit, Euch, liebe Studiosi, die Zähne von Orks oder Elfen vorzuführen. Aber glaubt mir, beide Rassen haben gleiche Gebisse, was einmal mehr ihre nahe Verwandtschaft bezeugt. Die hyperentwickelten Fänge im Unterkiefer führen bei den Elfen und auch bei den Ersten zu einem besonderen Biss, so dass beim Öffnen des Mundes der Kiefer nach vorn verlagert wird. Unseren heutigen Patienten hat sein Vierer oben rechts zu uns gebracht. Ich vermute, die Schmerzen gehen auf die jähe Unterkühlung des Organismus zurück. An dieser Stelle ist natürlich eine Anamnese vorzunehmen, denn mit bloßen Vermutungen kommen wir nicht weiter. Ich erinnere mich da an einen Fall, als ein
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