Schattenstunde
Vorsitzende des Komitees, das Lyle House leitete. Er hatte einen dünnen Haarkranz, eine riesige kantige Nase und war so groß, dass man den Eindruck hatte, er beugte sich pausenlos vor, um einen besser zu hören. Der Haarkranz und die Nase verliehen ihm eine unschmeichelhafte Ähnlichkeit mit einem Geier, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, die Augen klein und glänzend hinter den Brillengläsern.
»Und dies muss die kleine Chloe Saunders sein.« Er strahlte mich mit der falschen Herzlichkeit eines Mannes in mittleren Jahren an, der selbst keine Kinder hat und noch nie auf den Gedanken gekommen ist, dass man mit fünfzehn möglicherweise nicht mehr sonderlich begeistert ist, wenn man die
kleine
Chloe Saunders genannt wird.
Er versetzte mir einen ungeschickten Klaps auf den Rücken. »Deine Haare gefallen mir, Chloe. Rote Strähnen. Wirklich cool.«
Das »cool« sagte er so, wie ich ein spanisches Wort sage, wenn ich mir nicht ganz sicher bin, wie es ausgesprochen wird. Hinter seinem Rücken verdrehte Rae die Augen, bevor sie um ihn herumkam.
»Hey, Dr. D.«
»Rachelle. Oh, entschuldige,
Rae
, stimmt’s? Und, bist du anständig geblieben?«
Rae schenkte ihm ein dreistes Lächeln, eins, das offensichtlich eigens für Erwachsene entworfen war, bei denen sie sich beliebt machen musste. »Aber immer doch, Dr. D.«
»Das ist mein Mädchen. Chloe, Dr. Gill hat mir erzählt, dass du heute einen richtigen Durchbruch hattest. Sie ist sehr zufrieden mit deinen Fortschritten und damit, wie schnell du dich an die therapeutische Routine gewöhnt und deine Diagnose akzeptiert hast.«
Ich versuchte mich nicht allzu sichtbar zu winden. Er meinte es gut, aber eine Musterpatientin zu sein war nicht gerade das, wofür ich öffentlich beglückwünscht werden wollte. Schon gar nicht, nachdem Derek aufgehört hatte zu essen, um besser zuhören zu können.
Und jetzt geh, nimm deine Medizin und sei ein braves Mädchen.
Dr. Davidoff fuhr fort: »Normalerweise treffe ich mich nicht mit unseren jungen Leuten, bevor sie nicht mindestens eine Woche lang hier waren, aber bei dem Tempo, das du vorlegst, möchte ich dir keine Steine in den Weg legen, Chloe. Ich bin sicher, du möchtest so bald wie möglich zu deinen Freundinnen und deiner Schule zurück.«
»Ja, Sir.« Ich imitierte Raes fröhliches Grinsen, wobei ich Dereks gesammelte Aufmerksamkeit ignorierte.
»Dann komm mit, und wir unterhalten uns in Dr. Gills Sprechzimmer.«
Er legte mir eine Hand auf die Schulter, um mich aus dem Zimmer zu manövrieren.
Tori kam uns entgegen. »Hallo, Dr. Davidoff. Dieses neue Medikament, das Sie mir da verschrieben haben, funktioniert fantastisch. Mir geht’s prima.«
»Das ist gut, Victoria.«
Er tätschelte ihr geistesabwesend den Arm und führte mich aus dem Zimmer.
Das Gespräch erinnerte an meine erste Sitzung mit Dr. Gill, Dr. Davidoff ging es offensichtlich darum, eine Vorstellung von mir zu bekommen. Wer war Chloe Saunders? Was war mit ihr passiert? Wie stand sie dazu?
Ich bin mir sicher, er hätte all das auch in Dr. Gills Notizen finden können. Sie war heute eigens länger geblieben, um dabeisitzen zu können. Aber das Ganze hatte etwas von diesen Polizeifilmen, in denen der Ermittler den Verdächtigen verhört und dabei genau die gleichen Fragen stellt, die auch der Typ vorher schon gestellt hat. Es ist nicht die Information selbst, auf die es ankommt, sondern die Art, wie ich sie liefere. Wie sehen meine emotionalen Reaktionen aus? Welche zusätzlichen Details habe ich dieses Mal erwähnt? Was habe ich weggelassen?
Und trotz seiner ganzen falschen Herzlichkeit war Dr. Davidoff immer noch Dr. Gills Arbeitgeber und war dementsprechend auch hier, um ihre Arbeit zu überprüfen.
Dr. Gill hatte steif und angespannt dabeigesessen, vorgebeugt, die Augen zusammengekniffen und auf mich gerichtet, während sie hektisch jedes Wort und jede Handbewegung verfolgte – wie eine Schülerin, die fürchtet, etwas Wichtiges zu verpassen, das sie in der Prüfung brauchen wird. Dr. Davidoff dagegen nahm sich Zeit, besorgte sich einen Kaffee und brachte mir ein Glas Saft mit, lehnte sich entspannt auf Dr. Gills Stuhl zurück und schwatzte mit mir, bevor er zur Sache kam.
Als er mich fragte, ob ich seit meiner Ankunft hier Halluznationen gehabt hatte, sagte ich ja. Ich hatte am zweiten Morgen eine körperlose Hand gesehen und später am gleichen Tag eine Stimme gehört. Den gestrigen Tag erwähnte ich nicht, sagte aber vollkommen
Weitere Kostenlose Bücher