Schattenstunde
Als er es schließlich tat, fuhr er zusammen, als hätte ich ihn erschreckt. Dann winkte er mich zu einer noch dunkleren Stelle auf der vom Haus abgewandten Seite des Basketballkorbes hinüber.
»Alles okay?«, fragte ich. »Du hast ziemlich … beschäftigt ausgesehen.«
»Einfach bloß nachgedacht.« Sein Blick glitt an der Linie des Gartenzauns entlang. »Kann’s nicht abwarten, dass ich hier rauskomme. Genau wie alle anderen, nehme ich an, aber …«
»Rae sagt, du bist schon eine ganze Weile hier.«
»Könnte man so sagen.«
Ich sah einen Schatten in seinen Augen vorbeigleiten, als versuchte er, seine Zukunft einzuschätzen und sähe kein Anzeichen für ein Entkommen. Ich hatte wenigstens einen Ort, an den ich zurückkehren konnte. Simon und Derek hatten aber immer in Heimen gelebt. Wohin würden sie von hier aus gehen?
Er schlug den Ball hart auf den Boden und brachte ein Lächeln zustande. »Ich verschwende hier unsere Zeit, stimmt’s? Ich habe ungefähr zehn Minuten, bevor Derek mich aufspürt. Erst mal wollte ich mich entschuldigen.«
»Warum? Du hast doch gar nichts gemacht.«
»Für Derek.«
»Er ist dein Bruder, nicht deine Verantwortung. Du kannst doch nichts für das, was er tut.« Ich nickte zum Haus hin. »Warum hast du nicht gewollt, dass er uns reden sieht? Weil er wütend wird?«
»Glücklich wird er nicht gerade sein, aber …« Er bemerkte meinen Gesichtsausdruck und lachte kurz auf. »Ach so, du meinst, ob ich Angst habe, dass er mich dafür grün und blau prügelt? Nie im Leben. Derek ist nicht so. Wenn er sauer ist, behandelt er mich so wie alle anderen – er ignoriert mich. Nicht gerade lebensgefährlich, aber nein, ich
will
ihn nicht ärgern, wenn es nicht sein muss. Es ist bloß …« Er prellte den Ball, den Blick auf ihn gerichtet, dann ließ er ihn in die Hand springen. »Er ist jetzt schon sauer, weil ich ihn verteidigt habe, er hasst das, und jetzt rede ich mit dir und versuche Sachen zu erklären, von denen er nicht will, dass sie erklärt werden …«
Er ließ den Ball auf einer Fingerspitze kreisen. »Verstehst du, Derek ist eigentlich kein besonders geselliger Typ.«
Ich versuchte, nicht allzu schockiert auszusehen.
»Als er entschieden hatte, dass du vielleicht wirklich Geister siehst, hätte ich sagen sollen:
Klar, Bro, überlass es mir, mit ihr zu reden.
Ich hätte es … na ja, anders angefangen. Derek weiß einfach nicht, wann er aufhören sollte. Für ihn ist das Ganze so einfach, als ob man zwei und zwei zusammenzählte. Wenn du nicht von allein drauf kommst und nicht zuhörst, wenn er dir die Antwort gibt, dann rüttelt er einfach weiter, bis du aufwachst.«
»Schreiend wegzurennen scheint ihn jedenfalls nicht von weiteren Versuchen abzuhalten.«
Er lachte. »Hey, wenn Derek mir immer wieder so käme, würde ich auch brüllen. Und heute bist du überhaupt nicht gerannt. Du hast dich ihm gestellt, und glaub mir, das ist er nicht gewöhnt.« Ein Grinsen. »Gut gemacht. Mehr braucht’s auch gar nicht. Lass dir seinen Mist nicht bieten.«
Er versuchte es mit einem Wurf, und der Ball fiel elegant durch den Ring.
»Derek glaubt also, ich bin eine … Nekromantin?«
»Du siehst Geister, stimmt’s? Einen toten Typ, der mit dir geredet hat, hinter dir her war, dich gebeten hat, ihm zu helfen?«
»Woher weißt du …?« Ich unterbrach mich. Mein Herz hämmerte, und plötzlich ging mein Atem schwer. Ich hatte Dr. Gill gerade erst davon überzeugt, dass ich meine Diagnose akzeptiert hatte. Sosehr ich mir wünschte, Simon vertrauen zu können, ich wagte es einfach nicht.
»Woher ich das weiß? Weil es das ist, was Geister bei Nekromanten machen. Du bist der einzige Mensch weit und breit, der sie hören kann, und sie haben alle irgendwas zu sagen. Deswegen hängen sie hier rum, in dieser Zwischenwelt oder wo auch immer.« Er zuckte die Achseln und warf den Ball hoch. »Über die Einzelheiten weiß ich nicht viel. Hab noch nie einen richtigen Nekromanten getroffen. Ich weiß bloß, was ich gehört habe.«
Ich atmete ein und stieß den Atem wieder aus, bevor ich so unbeteiligt wie möglich antwortete: »Ja, ich denke mal, dass sich das logisch anhört. Man sollte erwarten, dass Geister das bei Leuten, die glauben, sie könnten mit Toten reden, machen würden. Medien, Spiritisten, Hellseher, wer auch immer.«
Er schüttelte den Kopf. »Ja, Medien, Spiritisten und Hellseher, das sind die Leute, die
glauben
, sie könnten mit den Toten reden. Nekromanten
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