Schattenstunde
Teil des Hauses aufzuhalten, damit Victoria und ihre Mutter etwas Privatsphäre haben. Bitte haltet euch aus dem Unterrichtsraum fern, bis der Unterricht wieder anfängt, und geht auch nicht ins Medienzimmer. Ihr könnt nach draußen oder ins Wohnzimmer gehen.«
Wenn jemand mich noch in der Woche zuvor gebeten hätte, anderen Leuten ihre Privatsphäre zuzugestehen, hätte ich dafür gesorgt, dass ich ihnen nicht in die Quere kam. Es war nichts weiter als Höflichkeit. Aber nun, nach ein paar Tagen in Lyle House, lautete meine Reaktion auf »Geh nicht in diesen Raum« nicht mehr »In Ordnung«, sondern »Warum nicht?« – und ich beschloss, die Antwort herauszufinden. In diesem Haus bedeutete Wissen Macht, und ich lernte schnell.
Die nächste Frage war nun, wie ich nahe genug an Dr. Gills Sprechzimmer herankam, um Tori und ihre Mom reden zu hören und zu erfahren, warum wir ihnen bei einer freundlichen Mutter-Tochter-Aussprache eigens Privatsphäre zugestehen mussten. Ich hätte natürlich den Typ mit dem Supergehör fragen können, wollte mich Derek aber nicht weiter verpflichten.
Mrs. Talbot erklärte uns, dass die Mädchen nach oben gehen durften, nicht aber die Jungen, weil sie zu diesem Zweck an Dr. Gills Büro vorbeikommen würden. Das brachte mich auf eine Idee. Ich ging nach oben, schlich mich in Mrs. Talbots Zimmer, von dort durch die Verbindungstür in Miss Van Dops und dann den Gang der Jungenseite entlang zur Treppe.
Das Manöver wurde belohnt, sobald ich auf dem Treppenabsatz in die Hocke ging.
»Ich kann es wirklich nicht fassen, dass du mir das angetan hast, Tori. Hast du eigentlich eine Vorstellung, wie peinlich das für mich war? Du hast also gehört, was die Schwestern über Chloe Saunders gesagt haben, als ich am Sonntag hier war, und konntest es gar nicht abwarten, allen anderen davon zu erzählen?«
Ich brauchte einen Moment, bis mir aufging, wovon Toris Mutter eigentlich redete – in dieser Woche war schon so viel passiert. Dann kam mir die Erleuchtung: Tori hatte den anderen erzählt, dass ich mir einbildete, Geister zu sehen. Rae hatte etwas davon gesagt, dass Toris Mutter auf irgendeine Art geschäftlich mit Lyle House zu tun hatte. Als sie am Sonntag das neue T-Shirt für Tori vorbeigebracht hatte, mussten die Schwestern ihr gegenüber wohl das neue Mädchen mit seinen »Halluzinationen« erwähnt haben, und Tori hatte gelauscht.
»Und als ob das noch nicht reichte, sagen sie außerdem, dass du jetzt schmollst, weil sie dieses andere Mädchen verlegt haben.«
»Liz«, flüsterte Tori. »Sie heißt Liz.«
»Ich weiß, wie sie heißt. Was ich nicht weiß, ist, warum du dich deswegen so aufführst.«
»Aufführst?«
»In deinem Zimmer schmollen. Mit Rachelle streiten. Öffentlich triumphieren, weil das neue Mädchen gestern einen Rückfall hatte. Wirken deine Medikamente nicht richtig, Victoria? Ich habe dir gesagt, wenn das neue Rezept nicht hilft, sagst du mir augenblicklich …«
»Es hilft, Mom.« Toris Stimme klang belegt, als hätte sie geweint.
»Nimmst du die Tabletten noch?«
»Ich nehme sie immer. Das weißt du doch.«
»Ich weiß nur, dass du eigentlich Fortschritte machen solltest, wenn du sie nimmst, und diese Woche beweist, dass du keine machst.«
»Aber das hat nichts mit meinem Problem zu tun. Es ist … es ist diese Neue hier. Sie macht mich rasend, immer die kleine Miss Sonnenschein. Dauernd versucht sie mich vorzuführen. Dauernd muss sie zeigen, dass sie was Besseres ist.« Toris Stimme ging in einen schrillen, bitteren Ton über. »Oh, Chloe ist ja so ein braves Mädchen. Oh, Chloe wird ja so bald wieder draußen sein. Oh, Chloe gibt sich ja so viel Mühe.« Sie sprach mit ihrer normalen Stimme weiter. »Ich gebe mir Mühe. Viel mehr als sie. Aber Dr. Davidoff war schon da und hat sie besucht.«
»Marcel möchte euch einfach nur motivieren.«
»Ich
bin
motiviert. Meinst du, es gefällt mir, hier mit diesen ganzen Versagern und Freaks eingesperrt zu sein? Aber ich will hier nicht nur einfach raus. Ich will gesund werden. Chloe ist das nicht weiter wichtig. Sie hat von Anfang an gelogen und allen Leuten erzählt, sie glaube gar nicht wirklich, dass sie Geister sehe. Chloe Saunders ist so ein falsches kleines Mist…«, sie verschluckte den Rest des Wortes, »… Biest«, verbesserte sie sich.
Ich war noch nie im Leben so genannt worden, wahrscheinlich nicht einmal hinter meinem Rücken.
Aber ich hatte wirklich gelogen. Ich hatte das eine gesagt und
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