Schattenstunde
ist nicht anders, als wenn man sie auf einer Filmleinwand sähe und sich sagte »Gott sei Dank bin das da nicht ich«.
Nachdem ich Toris Mutter gehört hatte, schwor ich mir, nie wieder über Tante Lauren herzuziehen. Ich hatte Glück, jemanden zu haben, dessen schlimmster Fehler war, dass ihr zu viel an mir lag. Selbst wenn sie von mir enttäuscht war, sie würde mich immer noch verteidigen.
Mir
vorzuwerfen, dass ich
sie
bloßstellte, das würde Tante Lauren nie im Leben tun.
Und mich faul nennen, weil ich mir nicht genug Mühe gab? Mir drohen, sie würde einen Jungen aus dem Haus entfernen lassen, den ich mochte?
Ich schauderte.
Tori gab sich wirklich Mühe, Fortschritte zu machen. Rae hatte sie als die Pillenprinzessin bezeichnet, und jetzt wusste ich auch, warum. Ich konnte nur ahnen, wie Toris Leben aussah, und nicht einmal meine Einbildungskraft reichte aus, um mir wirklich eine Vorstellung zu verschaffen.
Wie konnte eine Mutter ihrer Tochter die Schuld dafür geben, dass sie eine psychische Krankheit nicht schneller überwand? Es war ja nicht das Gleiche, wie wenn man eine widerwillige Schülerin dazu drängte, wenigstens die Versetzung in die nächste Klasse zu schaffen. Es war, als machte man eine Schülerin mit einer Lernbehinderung dafür verantwortlich, dass sie kein Zeugnis voller Einsen bekam. Was Toris Diagnose nun auch genau sein mochte, es musste so etwas Ähnliches wie Schizophrenie sein. Nicht ihre Schuld und nicht vollständig von ihr zu kontrollieren.
Tori schwänzte an diesem Nachmittag den Unterricht, was nicht weiter überraschend war. Die Regel, dass man sich nicht in seinem Zimmer zu verstecken hatte, galt für sie offenbar nicht. Vielleicht wegen ihrer Diagnose und vielleicht auch aufgrund der Position ihrer Mutter. Zwischen zwei Unterrichtsstunden lief ich nach oben, um nach ihr zu sehen. Sie war in ihrem Zimmer. Ihr Schluchzen drang kaum gedämpft durch die Tür hinaus in den Gang.
Ich stand im Flur, hörte sie weinen und wünschte mir, etwas tun zu können.
Wenn dies ein Film gewesen wäre, wäre ich jetzt hineingegangen, hätte sie getröstet und wäre vielleicht sogar ihre Freundin geworden. Ich hatte so etwas ein Dutzend Mal auf der Kinoleinwand gesehen. Aber auch hier galt wieder: es war nicht das Gleiche wie im wirklichen Leben. Das wurde mir erst klar, als ich selbst da stand, draußen vor Toris Tür.
Tori hasste mich.
Der Gedanke verursachte mir Bauchschmerzen. Ich war noch nie zuvor gehasst worden. Ich war die Sorte Mädchen, von der andere, wenn man sie fragte, so etwas sagen würden wie »Chloe? Die ist ganz okay, nehme ich mal an«. Sie liebten mich nicht, sie hassten mich nicht, sie machten sich meinetwegen einfach nicht allzu viele Gedanken.
Ob ich Toris Hass verdient hatte, war eine andere Frage, aber ihre Sicht der Dinge war vollkommen nachvollziehbar, sogar für mich. In ihren Augen war ich wirklich hier hereingeplatzt und hatte alles an mich gerissen. Ich war die »gute« Patientin geworden, die sie so verzweifelt zu sein versuchte.
Wenn ich jetzt zu ihr hineinging, würde sie kein mitfühlendes Gesicht sehen. Sie würde eine Siegerin sehen, die gekommen war, um ihren Triumph auszukosten, und mich nur noch mehr hassen. Also ging ich wieder und ließ sie allein in ihrem Zimmer weinen.
Als die nachmittägliche Pause vorbei war, verkündete Mrs. Talbot, dass der Unterricht für heute abgeschlossen war. Wir würden einen der seltenen Ausflüge in die Außenwelt unternehmen. Allzu weit würden wir dabei nicht gehen müssen, nur bis zu einem öffentlichen Schwimmbad ein paar Straßen weiter. Nah genug also, um zu Fuß hinzugehen.
Fantastische Idee. Wenn ich jetzt nur noch einen Badeanzug gehabt hätte.
Mrs. Talbot erbot sich, Tante Lauren anzurufen, aber ich wollte nicht, dass meine Tante deshalb von der Arbeit geholt wurde. Schon gar nicht, nachdem sie wegen meines Benehmens bereits gestern hergerufen worden war.
Aber ich war trotzdem nicht die Einzige, die im Haus blieb. Derek musste seine Therapiesitzung bei Dr. Gill absolvieren. Mir kam das unfair vor, aber als ich dies Simon gegenüber erwähnte, sagte der, dass Derek bei solchen Ausflügen sowieso nicht mitkommen durfte. Wahrscheinlich war das durchaus sinnvoll, wenn man sich überlegte, warum er überhaupt hier war. An dem Tag, an dem ich hier angekommen war und alle anderen zum Mittagessen ausgegangen waren, musste er in seinem Zimmer geblieben sein.
Als alle anderen weg waren, nutzte ich die
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