Schattensturm
schaffen.
Falls er kam.
Falls sie sich das Telefongespräch mit ihm nicht eingebildet hatte.
Dann war das Bellen plötzlich und abrupt hinter ihr.
Direkt
hinter ihr. Ihre Zeit war abgelaufen. Sie bog noch einmal ab, sah vor sich den Ausgang.
Unbewacht
. Sie hetzte den Korridor entlang, riss schon auf halbem Wege den Schlüssel aus der Tasche. Ihre Intuition verriet ihr, welcher der richtige war.
Sie prallte auf die Tür. Mühevoll fummelte sie den Schlüssel ins Schloss. Als er endlich drinnen war, warf sie einen kurzen Blick über die Schulter und bereute ihn sofort. Drei Schäferhunde rannten auf sie zu, mit angelegten Ohren und wütendem Knurren, viel näher, als sie erwartet hatte. Mit einem spitzen Schrei riss sie die Tür auf, sprang nach draußen und schlug sie hinter sich zu. Das Bellen verstummte schlagartig.
Japsend ließ sie sich gegen die Türe sinken. Ihre Lungen schienen zerreißen zu wollen, so sehr musste sie nach Luft schnappen, ihr Puls hämmerte im Stakkato in ihrer Brust. Sie konnte für ein paar Augenblicke an nichts anderes denken als an ihren Atem.
Aber sie hatte es geschafft, dachte sie, als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte – für den Moment zumindest. Sie sah sich hastig um. Der Ausgang, aus dem sie gerade gekommen war, war ein Notausgang gewesen, in irgendeinem Wachraum leuchtete jetzt bestimmt ein Warnsignal auf. Doch ob das bereits von den Wächtern bemerkt worden war? Der Platz vor ihr lag jedenfalls noch inDunkelheit, abgesehen von den Scheinwerfern auf den Wachtürmen, deren Leuchtfinger sich über das Gelände tasteten. Die Mauer selbst war beleuchtet, nur am Ende des Ostbaus war einer der Lichtmasten ausgefallen. Sie fragte sich kurz, ob es Zufall war, dass Lukas sie ausgerechnet dort haben wollte. Jetzt war nur noch die Frage, wie sie es bis dahin schaffen sollte.
Sie hatte den Gedanken gerade zu Ende gedacht, als das Schrillen der Sirenen plötzlich hinter einem dumpfen, dennoch unglaublich lauten Knall verschwand. Beton- und Mauerstücke flogen Veronika um die Ohren. Von einem Moment auf den anderen war die Luft erfüllt von Staub und Korditgeruch. Wachen schrien aus ihren Türmen, plötzlich waren die Leuchtfinger der Scheinwerfer auf die immer größer werdende Staubwolke gerichtet.
»FRAU WAGNER!«, brüllte jemand.
Veronika rannte los. Es waren etwa sechzig Meter bis zur Mauer, fünfzig davon den Ostbau entlang. Ein Scheinwerfer strich auf halbem Weg über sie, doch nichts passierte, niemand schoss. Mit pochendem Herzen lief sie durch die Bresche in der Mauer, wo zwei Männer mit alten Bundeswehr-Parkas und Sturmhauben über dem Gesicht warteten. Beide trugen Maschinenpistolen, mit denen sie auf die angrenzenden Wachtürme zielten.
»Frau Wagner?«, fragte einer der beiden.
Veronika nickte atemlos.
»Kommen Sie!«
Der Mann huschte zwischen zwei Gebäuden hindurch auf eine große, vierspurige Straße, wo bereits ein dunkelgrüner Lada-Geländewagen mit laufendem Motor wartete. Der Mann hielt ihr die Tür zur Rückbank auf, sie rutschte hastig hinein. Die beiden Maskierten stiegen zu ihr, einer von ihnen klopfte dem Fahrer gegen den Oberarm, worauf dieser einen Gang einlegte und losfuhr. Veronika ließ sich erschöpft in den durchgesessenen, staubigen Sitz sinken.
Der Fahrer nahm eine Hand vom Lenkrad und reichte ihr damit ihr Schwert-Medaillon nach hinten. Es war Sven Lukas, dochdas nahm sie nur ganz am Rande wahr, denn ihre Aufmerksamkeit war vollständig auf das Medaillon gerichtet. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie musste lachen wie ein kleines Kind, als sie die Erkenntnis traf. Ihr Kampfsinn existierte. Ihr Gefahrensinn existierte. Das Gespräch mit Sven Lukas hatte offenbar genau so stattgefunden, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte. Konnte da die Erinnerung an jene Nacht mit dem Ulrichmonster und Fatima eine Täuschung sein?
Sie schüttelte den Kopf. Sie war nicht wahnsinnig …
MICKEY
Heart’s Dancing Club, Bergen, Norwegen
Montag, 12. April 1999
Die Außenwelt
Der Catwalk des
Heart’s Dancing Club
war verwaist, der Zuschauerraum leer und still. Es gab niemanden, der über das Mikrophon die Vorzüge der Tänzerinnen anpries, es gab keine Bedienungen, die sich um die Bedürfnisse der Gäste kümmerten ohne zusammenzuzucken, wenn sie eine Männerhand an ihrem Hintern spürten, es fehlten die notgeilen Männer, die sich kaum noch den Sabber zurückhalten konnten, während sie die Mädchen anstarrten. Es war Montag. Montag war
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