Schattensturm
Veronika und Håkon blieben ein wenig länger wach und erkundigten sich nach dem weiteren Weg. Æthelfried warnte sie vor den Herbststürmen, die sie hier jeden Tag erwarteten.
An die Warnung des Angeln sollten sie sich noch schmerzlichst erinnern. Schon morgens standen graue Wolken über dem Horizont im Westen, die ihnen schnell entgegenzogen und sie schließlich zu Mittag erreichten. Stahlgraue, mit schaumiger Gischt gekrönte Wellenberge türmten sich meterhoch um sie herum auf. Vom Wind geworfene Kreuzseen verwandelten die Meeresoberfläche in ein wildes Labyrinth aus Wellenkämmen und -tälern. Der Himmel erschien in einem tristen, schmutzigen Weiß, die Sonne darin war bald kaum mehr als ein etwas hellerer, verwaschener Fleck. Darunter zogen dunklere Wolken mit schneller Geschwindigkeithinweg, von Westen aus in Richtung des Festlandes treibend. Ständig die Form verändernd, ineinander übergehend und sich voneinander losreißend, erinnerten sie an Gestaltwandler aus den Legenden. Der Wind blies hart aus Nordwest und zerrte an Takelage, Kleidung, Haaren und Nerven. Sturmböen rissen die Schaumkronen von den Wellen und bliesen Sprühregen und Spritzwasser vor sich her.
Die Besatzung hatte die Riemen im Boot verstaut, die Riemenlöcher mit Korkstopfen geschlossen und das Segel gesetzt, das sie mit großer Geschwindigkeit die Küste Jütlands 1 entlang nach Norden zog. Das Langschiff tauchte tief in schluchtenartige Wellentäler ein und ritt in luftigen Höhen über Wogenkämme. Jede neue Talfahrt fühlte sich an wie ein Ritt direkt hinein in die finstersten Tiefen der Eishölle, mit jedem neuen Anstieg kam die Angst, umgeworfen zu werden und in dieser so lebensfeindlichen Welt zu kentern.
Die Stürme brachten Panik und große Erschöpfung mit sich. Nachdem die Hinfahrt am Septemberanfang so friedlich und ruhig gewesen war, war Veronika nun so seekrank, wie sie nie für möglich gehalten hätte. Todesängste quälten sie stundenlang, bis sie nicht mehr die Kraft hatte, noch weiter Angst zu empfinden. Und sie war nicht allein damit – deutlich mehr als der Hälfte ihrer Besatzung erging es ähnlich. Die Abergläubischen hielten ihre Thorshämmer umklammert und beteten still vor sich hin, die anderen blieben hinter die Reling geduckt und starrten mit weit aufgerissenen Augen nach draußen, wo das Wasser von Stunde zu Stunde mehr zu einem Alptraum wurde. Nur Håkon schien mit der Aufgabe zu wachsen. Er kniete im Heck, das Ruder auf der Steuerbordseite (jetzt wusste Veronika wenigstens, woher der Begriff kam) fest im Griff, und schimpfte und schrie in einem fort. Er verfluchte den Sturm und jubelte über jeden Wellenberg, den die
Storm
erklomm. Die Besatzung tippte sich vielsagend an dieStirn, doch keiner wagte es, etwas laut gegen den Kapitän zu sagen, der sie bisher so sicher durch das Wetter gebracht hatte.
Der Sturm ließ erst zum Abend nach, wo Håkon die
Storm
durch eine schmale Durchfahrt zwischen den Dünen steuerte, hinter der das Meer plötzlich ruhig und friedlich vor sich hin plätscherte. Auf der Südseite befand sich ein Dorf, wo sie ihr Boot auf den Strand hinaufzogen. Sie quartierten sich erneut in einem Langhaus ein, dieses Mal geführt von einem jütischen Jarl, der ihnen erklärte, dass der Kanal in den Limfjord weiterführte, der die Nordsee mit der Ostsee verband und den nördlichen Teil Jütlands praktisch zu einer Insel machte. Håkon erkundigte sich danach, wie lange es dauerte, den Fjord zu durchqueren, um den Stürmen zu entgehen, wurde jedoch vom Jarl davor gewarnt, es zu versuchen. Weiter östlich lag eine Stadt namens Skive, in der Trolle und Schatten festsaßen und von wo aus sie Piratenschiffe in den Fjord entsandten. Sie berieten sich kurz und beschlossen, weiter die Nordsee zu wagen, falls der Sturm ein wenig nachgelassen haben sollte.
Am nächsten Tag war das Wetter besser, und so wagten sie sich erneut auf das Meer. Nach ein paar Stunden verlief die dünige Küste Jütlands nach Osten hin, und sie folgten ihr hinein in den Skagerrak, das Ozeangebiet zwischen Jütland und Norwegen. Der Wind stand nun direkt hinter ihnen und blähte das Segel auf, so dass das Land beinahe doppelt so schnell an ihnen vorbeizog als am Tag zuvor. Die Männer waren bester Laune und sangen Lieder, zuerst auf Deutsch, bis sie Håkon zurechtwies, dann versuchten sie, zu den bekannten Melodien Texte auf Norrøn zu improvisieren. Veronikas Norrøn war mittlerweile gut genug, dass sie grob verstehen
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