Schattensturm
und nein, sie werden dir nichts tun. Aber höchstwahrscheinlich sind es wieder deine Todfeinde, wenn sie dir das nächste Mal begegnen, also präg dir ihre Fratzen gut ein!«
»Alles klar, Boss«, meinte Ingmar. Seine Stimme zitterte leicht.
Derrien atmete noch einmal tief durch. Dann betrat er die kleine Bar.
Es war nicht schwer, Lord Rushai zu finden. Er saß im Hinterbereichan einer Glaswand, durch die man hinüber zum Terminal 2 sehen konnte, auf dem Tisch vor ihm eine Zeitung und ein zur Hälfte gefülltes Glas Rotwein. Er war ein dunkler Mann, das Gesicht wettergegerbt von vielen Jahren draußen in der Wildnis. Die Narbe, die ihm Evan MacNevin damals in der Schlacht vom Schattenwald zugefügt hatte und die von seiner rechten Wange über die Nasenwurzel und das linke Auge lief, war weniger auffällig als Derrien erwartet hatte. Vermutlich hatte sie der Schwarze Baum überschminkt. Das braune Glasauge war von Rushais echtem kaum zu unterscheiden. Er war glatt rasiert, trug seine Haare in einem modischen Kurzhaarschnitt, seine Kleider bestanden aus Jeans und Jackett.
Rushai faltete die Zeitung zusammen und stand auf. »Derrien«, meinte er mit tiefer Stimme.
»Rushai.«
Der Händedruck des Schattenlords war kräftig. Vertrauenserweckend.
So wie sein eigener.
Sie setzten sich. Ein Ober kam und nahm Derriens Bestellung auf, dann saßen sie sich schweigend und musternd gegenüber. Der Schwarze Baum, Lord Rushai, einer der mächtigsten Schattenlords Bergens, möglicherweise ganz Norwegens, Mörder von Quintus und Alistair und Pilix, Heerführer in den Schlachten von Kvam und Sauda gegen die Ratsarmee von Stavanger, saß nur eine Tischbreite von ihm entfernt. Ein Dutzend Male schon hatte sich Derrien geschworen, ihn zu töten.
Aber deswegen war er nicht hier.
»Ein netter Ort für ein Treffen unter Feinden«, begann Rushai mit einem anerkennenden Nicken.
»Die Sicherheit hier ist sehr zuverlässig seit dem Vorfall vor ein paar Monaten«, gab Derrien zurück. »Du weißt nicht zufällig, was genau dort passiert ist?«
Rushai grinste. »Derrien Schattenfeind, Herr der Waldläufer, weiß nicht, was in seinem Land vorgeht?«
Derrien zuckte mit den Schultern. »Mein Land ist das Niemandsland, Rushai. Selbst vor der Niederlage gegen die Germanen habe ich mich nicht dafür interessiert, was hier passiert. Die Frage ist reine Neugierde – der Vorfall stinkt geradezu nach der Beteiligung Übernatürlicher.«
»Gut gekontert«, gab Rushai zu. »Und du hast recht. Ein paar unserer
Ratten
haben versucht, einen Jarl der Germanen auszuschalten.« So, wie er das Wort »Ratten« betonte, hätte er vermutlich auch »Kotze« oder »Scheiße« gesagt.
»Und haben es nicht geschafft?«
»Nein. Irgendjemand hat vergessen, ihnen zu sagen, dass sie mit Runenmagie zu rechnen hatten.«
»Natürlich nicht du.«
Rushai schüttelte den Kopf. »Ich war zu dieser Zeit bei meiner Armee. Ich habe von diesem verpatzten Überfall erst sehr viel später erfahren.«
»Apropos Armee.« Die Innenseiten seiner Hände begannen erneut zu schwitzen. So langsam kamen sie zu dem Punkt ihres Treffens. »Wo steckt die denn eigentlich?«
Rushai zog die Augenbrauen zusammen. »Du rechnest nicht im Ernst damit, dass ich dir das sage.«
»Nein. Aber es ist relevant für das, was ich dir anzubieten habe.«
Derrien bezahlte das Bier, das der Ober ihm brachte. Währenddessen trank Rushai von seinem Wein und machte damit deutlich, dass er nicht vorhatte, mit ihm anzustoßen. Derrien musste sich ein Schnauben unterdrücken. Als ob
er
das gewollt hätte … Inzwischen war ihm ein weiteres Merkmal an dem Schatten aufgefallen: Rushai besaß eine Art Reptilienblick. Er bewegte sein Auge kaum, stattdessen bevorzugte er es, seinen ganzen Kopf in die Richtung zu drehen, in die er sehen wollte. Es war auffällig, aber es tarnte hervorragend, dass er nur noch ein Auge besaß. Würde er stattdessen ganz normal herumsehen, würde sofort auffallen, dass sich nur eines seiner Augen bewegen konnte.
Kein Wunder, dass Tom ihn nicht bemerkt hat …
»Du hast von einem Angebot gesprochen«, meinte Rushai, nachdem er das Glas wieder abgestellt hatte.
Derrien nickte langsam. Nun griff auch er zu seinem Bier und nahm einen Schluck. Er ließ sich Zeit dabei. Das, was er zu sagen hatte, war das, was ihm die Stämme später möglicherweise als Verrat auslegen würden. Er hielt sich selbst nicht für eitel, aber die Aussicht, als »Derrien der Verräter« in die
Weitere Kostenlose Bücher