Schattensturm
springen, denn dort stand tatsächlich Spiders Menschgestalt im Durchgang zum Korridor, nackt und blass, eine Pistole im Anschlag auf die deutschen Rattenmenschen gerichtet, die vor ihm auf dem Boden lagen. Seine zweite Hand trug ein blutiges Messer von ähnlicher Machart wie das, mit dem der Rattenmensch vorhin Colt hatte töten wollen. Mickey nahm seine Kampfgestalt an und hetzte zu ihm.
»Alles in Ordnung?«, fragte Spider besorgt.
»Fast«, japste Mickey.
»Wir müssen hier weg. Das hier ist gehört worden!«
»Ja …« Mickey sammelte mit der Linken die Klinge auf, die der Erste der Deutschen fallen gelassen hatte.
»Nett von ihnen, die Messer für uns mitzubringen«, kommentierte Spider trocken, während Mickey einem nach dem anderen die Kehle durchschnitt. »Die hätten wir sonst
nie
totgekriegt.«
»Ja …«
»Was ist mit Colt?«
Mickey antwortete nicht. Über die empathische Verbindung hatte er ihn nicht sterben gespürt, doch was war, wenn der Deutsche ihn während seiner Bewusstlosigkeit getötet hatte? Besorgt beugte er sich über ihn, um nach seinem Puls zu tasten, und sah ihn zwinkern. »Du lebst«, keuchte er. Ein Stein fiel von seinem Herzen.
»Los«, meinte Spider, der in der Zwischenzeit in die Tarnfleckjacke eines der Rattenmenschen geschlüpft war. »Ihr könnt euch später in die Arme fallen!« Die Jacke riss an mehreren Nähten, als er die Kampfgestalt annahm, doch sie blieb intakt genug, um in ihr das Messer zu verstauen
Mickey überlegte kurz, eine der Maschinenpistolen mitzunehmen, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Einhändig, und dazu noch mit der Linken, war eine MP geradezu ein Witz.
»Du musst ihn nehmen«, keuchte er und deutete auf Colt.
Spider packte sich den stöhnenden Jungen auf die Schultern. »Was ist mit deinem Arm?«
»Später«, meinte Mickey. »Auf halbem Weg zum Kontrollraum ist ein verrammeltes Treppenhaus«, erklärte er. »Vielleicht kommen wir da hinaus.«
»Wir würden wohl besser«, meinte Spider. »Einer der Typen hat mit dem Telefon Verstärkung aus der Diskothek angefordert. Schätze, der Stollen scheidet damit aus.«
Mickey zog eine Grimasse. Natürlich war es ihnen gelungen, rechtzeitig Verstärkung zu holen. Alles andere wäre auch
zu
einfach gewesen. Er verbiss sich einen Fluch und folgte seinem Rudelbruder.
Ab jetzt heißt es Katz und Maus
, dachte er dabei.
Nur dass es Ratten statt Mäuse sind.
Und Ratten statt Katzen.
Rattenmensch gegen Rattenmensch. Er schwor sich, Ashkaruna für diesen Auftrag bluten zu sehen.
KEELIN
Hamburg, Deutschland
Donnerstag, 21. Oktober 1999
Die Innenwelt
Langsam senkte sich die Sonne über die Wattlandschaft. Ein Reiher flog mit eingezogenem Kopf an der goldenen Scheibe vorbei Richtung Westen. Etwas flussabwärts stritten sich ein paar krächzende Möwen um einen Fischkadaver. Das wattbraune Wasser floss mit der Ebbe zügig in Richtung Meer und trieb Äste und Schilfrohr mit sich. Die Szenerie war ruhig und menschenverlassen.
Keelin biss sich auf die Lippe. Erneut ein Tag ohne auch nur die Spur eines Germanen, geschweige denn eines ihrer Boote. Frierend stand sie auf und machte sich auf den Weg zurück zu Brynndrech. Es würde ein unangenehmer Marsch werden, kalt und nass. Sie hatte heute extra einen Elbarm durchschwommen, in der Hoffnung, dahinter den Hauptstrom zu finden, den die Germanen als Schiffsstraße verwendeten. Aber entweder hatten sie ihren Bootsverkehr stark eingeschränkt, oder aber die Wasserader, nach der sie suchte, lag noch weiter südlich als bisher von ihr angenommen. Sie versuchte krampfhaft, sich daran zu erinnern, wie viele Gewässer sie durchschwommen hatte, bevor sie Brynndrech gefunden hatte, kam aber auch dieses Mal zu keinem Ergebnis.
Missmutig stapfte sie durch das Watt. Sie sah nicht auf, wenn sie eine Seeschwalbe oder eine Sumpfratte aufschreckte. Sie hatte heute bereits Beute gemacht, von der dicken Eiderente war sogar noch so viel übrig, dass sie auch morgen noch davon essen konnten. Der Gedanke daran ließ sie beinahe würgen. Sie aß nun schon seit neun Tagen rohes Fleisch, und sie hatte sich immernoch nicht daran gewöhnt. Neun Tage in dieser Hölle aus endlosem Watt und Kälte, nichts als Kälte. Es schien ihr eine Ewigkeit zu sein.
Bald würde es enden, auf die eine oder die andere Art. Keelin machte sich nichts vor. Wenn sie nicht bald Hilfe fand, würde Brynndrech sterben. Sie selbst konnte ihm nicht helfen. Sie hatte keine Ausrüstung und keine
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