Schattensturm
Was sollen wir tun?«
»Kommt mit!« Wolfgang eilte aus dem Flur und lief der Spur hinterher. Sie führte durch den Hauptkorridor tief in das Innere des Gebäudes, vorbei an mehreren großen Aufzügen –
zu groß für nichts als Büros
– und verschwand in einem Treppenhaus. »Lass zwei deiner Männer hier«, befahl er Kollborn flüsternd. »Sie sollen uns den Rücken freihalten! Der Rest kommt mit mir!« Damit stieß er die Tür zum Treppenhaus auf.
Ein Schuss krachte so laut, dass Wolfgang glaubte, sein Trommelfell platzen hören zu können. Etwas schlug gegen seinen Bauch und ließ ihn rückwärts aus dem Treppenhaus stolpern. Er ging hart zu Boden.
»Ich glaube«, keuchte er, »wir haben es gefunden!« Dann starb er.
Es war schwierig, nicht zu schreien, aber Veronika riss sich zusammen, so gut sie konnte. Sie zappelte mit dem freien Bein, schlug mit den Fäusten gegen den Tisch und biss so fest in das Stück Holz, das ihr jemand in den Mund gesteckt hatte, dass sie ihre Zähne knirschen hörte. Aber sie schrie nicht, und das war wichtig. Wenn ihre Männer sie schreien hörten, würden sie glauben, dass sie schlimmer verwundet war, als sie es tatsächlich war. Es war jedoch nur eine Fleischwunde, die ihr einer der Männer nähte – eine Fleischwunde zwar, die ihr den gefühlten halben Oberschenkel abgeschnitten hatte und die üppig blutete, aber immer noch nur eine Fleischwunde.
»Geht es?«, fragte der Krieger besorgt.
»GNNN!«, stöhnte Veronika durch verkrampfte Kiefer. Sie stellte fest, dass sie noch nicht einmal wusste, wer es denn war, der da an ihr herumnähte.
»Das heißt ja«, übersetzte Gunnar. Sie
hasste
ihn für diesen Spruch.
Der nächste Stich brannte ebenso wie der erste, glühend heiß und unerträglich. Es folgte noch einer, noch einer und noch einer. Dann kam kein neuer Schmerz hinzu. Veronika spuckte das Holzstück vor sich auf den Tisch. »War es das?«, keuchte sie.
»Das war der Muskel«, meinte die Stimme des Nähers. »Es tut mir leid, aber für die Haut brauche ich noch ein paar mehr Stiche.«
Veronika fühlte sich schummrig. Sie erinnerte sich dumpf daran, dass sie damals operiert worden war, als ihr der UÇK-Mann auf dem Kosovo das Messer in den Unterarm gerammt hatte, mitNarkose in einem Feldlazarett. Jetzt lag sie auf einem Tisch, auf dem noch vor wenigen Stunden gegessen worden war, und wurde ohne Betäubung und ohne sterile Instrumente von jemandem genäht, der davon noch weniger Ahnung hatte als sie selbst.
»Achtung«, meinte der Mann und riss sie aus ihren Gedanken. »Bereit?«
»Nein!« Hastig schnappte sie mit dem Mund nach dem Holzstab und biss sich daran fest. Erst dann nickte sie und machte »M-hm!«
Die ersten beiden Stiche erlebte sie noch mehr oder weniger bewusst mit.
Einmal mehr waren sie auf der Flucht. Keelin war nass und kalt und zu Tode erschöpft, aber sie rannte den drei Rattenmenschen hinterher, als wenn der Teufel hinter ihnen her wäre. In gewisser Weise war er das auch, wenngleich es nicht der Teufel, sondern ein Dämon war. Streng genommen war er auch gar nicht hinter
ihnen
her, doch das schien Mickey, den Anführer der Rattenmenschen, nicht zu interessieren. Seine Angst vor dem Ungeheuer hatte seine Gefährten angesteckt und mit ihnen Keelin, die lieber sterben würde, als alleine dem Dämon gegenübertreten zu müssen.
Die Stadt war ein einziger Alptraum. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich mit den Germanen zu treffen, doch stattdessen war sie seit ihrer Rückkehr in die Außenwelt auf der Flucht. Sie hatte weder die Harburg noch die Germanenpforte wiedergefunden und war stattdessen über eine gefallene Pforte gestolpert, die sie benutzt hatte. Die Wächter der Pforte, zwei Phantome, hatten sie mehrere Stunden lang durch die Nacht gejagt, bis sie sie schließlich in der Menschenmasse einer U-Bahn-Haltestelle abgehängt hatte. Dann war sie auf die Rattenmenschen gestoßen und floh seitdem mit ihnen. Hamburg wimmelte nur so von Schatten und feindlich gesinnten Rattenmenschen, ohne Hilfe wäre sie vermutlich schon an jenem Tag am Hauptbahnhof gestorben.
Es regnete. Zwischenzeitlich hatte es einmal kurz aufgehört,doch bald darauf wieder angefangen. Irgendjemand hatte ihr einmal erzählt, dass in Deutschland besseres Wetter herrschen würde als in Schottland oder Norwegen, aber sie konnte das nicht nachvollziehen. Sie erinnerte sich seit ihrer Ankunft in Harburg am Septemberanfang an keinen Tag, an dem es nicht irgendwann geregnet
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