Schattensturm
er würde es herausfinden. Ohne den Ostturm hätte es vermutlich noch
Stunden
gedauert, bis sie den letzten Widerstand der Festung gebrochen hätten, von den höheren Verlusten ganz abgesehen.
Er schnüffelte und seufzte zufrieden. Die Gerüche sprachen das Tier an, das tief in ihm steckte und während der Schlacht wütend mit den Ketten gerasselt hatte. Wie gerne wäre er auf die nächstbeste Leiter gesprungen und hätte mitgemacht bei dem Hauen und Stechen dort oben, hätte das Adrenalin gespürt und die Panik gerochen, das unvergleichliche Gefühl, mit dem sich eine Klinge in Fleisch bohrte, den Schmerz der eigenen Verwundungen … Aber nein. Er war hier kein gewöhnlicher Krieger, sondern ein Heerführer. Das Risiko, in der Schlacht getötet zu werden, war zu groß gewesen. Man wurde kein Schattenlord, wenn man nicht wusste, wann man sich besser zurückhielt. Mit leichtem Bedauern ließ er den Gestank von Blut und Schweiß, von aufgerissenem Gedärm und ausgelaufenen Blasen hinter sich und betrat die Festung.
Der Hof Trollstigens war groß genug, um neben einem geräumigen Platz genug Raum für mehrere Gebäude zu bieten, die sich an die Mauern schmiegten. Die Schmiede brannte und tauchte die Bauten in flackerndes rotes Licht. Bei der Schlacht vor zehn Jahren waren sie durch das Tor gebrochen und hatten im Hof heftig gekämpft und den Boden mit Leichen übersät, doch dieses Mal hatte Rushai das Tor ignoriert und sich voll und ganz auf die Mauern konzentriert, so dass hier unten zwar der Schnee zertrampelt war, aber kaum Tote herumlagen. Zwei Verwundete brüllten erbärmlich. Einem davon ragte ein Pfeil aus dem Rücken, dem anderen war das Gedärm aus dem Bauch gequollen und lag nun dampfend im Schnee. Rushai erkannte ihn: Es war Ludus, ein frühererHelvetier, der im Kriegszug vor zehn Jahren in seine Hände geraten war. Rushai schmunzelte über die Ironie des Schicksals: Damals vor zehn Jahren, als so viele gestorben waren, hatte Ludus, ein unerfahrener Neuling, überlebt – jetzt, wo so viele überlebt hatten, war Ludus, ein kampferprobter Veteran, gefallen. Leichenfledderer waren bereits dabei, den Toten die Kleider vom Leib zu reißen. Rushai stieß einen von ihnen mit dem Stiefel an und befahl ihm, sich ein paar Männer zu suchen und das Feuer zu löschen. Dann wandte er sich um und sah hinauf zum Torturm.
»Willkommen auf Trollstigen, Meister Rushai!«, rief Shar’ketal von der Wehrmauer herab.
»Du hast den Torturm gestürmt?«
Shar’ketal klopfte sich gegen die Brust. »Ich und kein anderer!«
Kein anderer als fünfzig deiner Krieger, meinst du wohl.
»Weißt du, wer den Ostturm genommen hat?«
»Ach, kommt schon, Meister, der Ostturm war nicht fair! Sie hatten die Tür wagenweit offen stehen! Den hätte sogar ein Skelettschatten erstürmen können, ohne dabei etwas falsch zu machen! Abgesehen davon habe
ich
ihnen den Rücken freigehalten!«
Rushai grinste kalt. Die taktische Unfähigkeit Ashkarunas, des Anführers der Skelettschatten, war mittlerweile schon fast sprichwörtlich im Schwarm. Dennoch war es
unvorsichtig
, vor so vielen Zeugen über ihren Lord zu lästern. Es würde ihn nicht wundern, wenn der großmäulige Shar’ketal in den nächsten Wochen plötzlich spurlos verschwinden würde.
Das hieß, er würde ihn zu seinen Rangern holen müssen, weg aus der Reichweite Ashkarunas. Bis gestern noch war Shar’ketal ein Schatten unter vielen anderen gewesen, dessen Verlust Rushai kaum mehr gestört hätte als der eines sterblichen Veteranen, doch nun war Shar’ketal ein Schattenveteran. Und seitdem Ashkaruna in der Schlacht von Espeland die Hälfte von Rushais Veteranen verheizt hatte, brauchte er jeden einzelnen von ihnen, insbesondere dann, wenn er die riesigen Territorien, die er erobert hatte, auch halten wollte.
»Wer hat nun den Ostturm gestürmt?«, wollte er wissen.
Shar’ketal stützte den Ellbogen auf das Geländer des Wehrgangs. »Koshar hat ihn gehalten, aber glaube ihm nicht, wenn er behauptet, dass er ihn auch erstürmt hat. Er ist erst später dazugekommen. Ich glaube, es war einer seiner Jungschatten.«
Rushai nickte und wandte sich ab. Shar’ketal war ihm schon immer auf die Nerven gegangen. Als ihm jedoch noch etwas einfiel, wandte er sich noch einmal um. »Hast du während des Kampfes eine Frau gesehen?« Die Garnison hatte, soweit er das bis jetzt beurteilen konnte, ausschließlich aus Männern bestanden.
»Ja. Eine kleine Blonde, eine ganz wilde.«
»Weißt
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