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Schattensturm

Schattensturm

Titel: Schattensturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Saumweber
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Wahrscheinlichkeit dasselbe erleiden würde. Ihrer Meinung nach hatte Veronika nicht das Recht darauf, hysterisch zu sein.
    Abgesehen davon, dass sie es eben
doch
hatte. Sie würden kommen. Veronika wusste es. Und sie würden sie mitnehmen.
    Wahnsinn.
    Ein kleiner Hoffnungsschimmer glomm in ihr auf. Wenn sie wahnsinnig war, war ihre Gewissheit, heute dranzukommen, ebensolcher Wahnsinn. Sie klammerte sich daran, mit all ihrem Verstand, all ihrer Hoffnung.
    Zu dumm, dass davon nicht mehr viel übrig war …
     
    Sie kamen wieder in Vierergruppen. Die Springerstiefel auf den Gitterböden waren schon von weitem zu hören. Die Lichtkegel ihrer Handscheinwerfer tasteten sich durch den Korridor wie die Finger einer kranken, übergroßen Hand.
    Veronika ignorierte ihre Ankunft für den Moment. Sie starrte die Visitenkarte in ihrer Hand an.
Sven Lukas, Rechtsanwalt
, stand darauf geschrieben, sowie eine Telefonnummer. Er hatte sie besucht, heute Morgen erst, und ihr angeboten, ihr beim Ausbruch zu helfen. Er hatte sogar Andeutungen gemacht, zu wissen, was ihr passiert war, ganz so, als ob sie nicht vollkommen übergeschnappt war. Als sie ihn gefragt hatte, warum er sie befreien wollte, hatte er behauptet, sie für irgendeinen merkwürdigen Krieg zu brauchen. Sie hatte abgelehnt. Sie war zwar Soldatin gewesen, doch sie hatte schon immer versucht, Gewalt zu verhindern, nicht damit anzufangen, sowohl in Sarajevo als auch auf dem Kosovo. Sie fragte sich, wie real ihre Erinnerung an diesen Lukas wohl war. Hatte er ihr tatsächlich angeboten, mit ihr auszubrechen? Oder war er nur ein einfacher Rechtsanwalt, der sie frei kriegen wollte, und nun erbastelte ihr kranker Verstand zusätzliche Erinnerungen, damit sie in ihre bisherige Wahnvorstellung passten? Und sie fragte sich, wiesie seine Hilfe nur hatte ausschlagen können, wenn ihre Erinnerung tatsächlich stimmen sollte. Wie hatte sie nur so dumm sein können! Alles, wirklich alles war besser, als hier darauf zu warten, dass die Männer kommen würden …
    Aber halt
, rief sie sich plötzlich in die Gegenwart zurück. Das Warten war vorüber. Sie waren bereits da.
    Und etwas war anders als sonst …
    Sonst waren die Schritte langsam, geradezu sadistisch langsam, während sich die Männer in dem Gefühl badeten, die absoluten Machos zu sein, die Überkerle, die sich nach freiem Willen eines der Hühner herauspicken konnten, um es zu schlachten. Sonst verschwanden die Lichtfinger in regelmäßigen Abständen aus dem Korridor, wenn die Wächter mit ihren Taschenlampen in die Zellen leuchteten und sich überlegten, ob ein ausreichend hübsches Huhn dabei war.
    Nicht heute. Heute lag etwas Zielstrebiges in ihren Schritten.
    Ein eiskalter Schauer lief Veronika über den Rücken. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte. Die Panik des Vorabends ergriff erneut von ihr Besitz.
    Oh mein Gott oh mein Gott oh mein Gott bitte lass sie vorbeigehen bitte mach dass es nicht geschieht bitte bitte bitte …
    Sie hatte die Augen fest zusammengepresst, um nicht sehen zu müssen, wenn sie da waren. Wenn man sie nicht sah, sahen sie einen auch nicht, oder? Es war ein alter Kinderglaube, und Veronika wusste nur zu genau, welcher Blödsinn das war, aber es war ein Strohhalm, und ein Ertrinkender klammerte sich an
alles
, was sich ihm bot.
    Die Schritte hielten vor ihrer Zelle an. »Die da oben«, sagte eine beinahe jugendlich klingende Stimme. Dieselbe Stimme, die gestern Mareike ausgesucht hatte. Keine Chance, dass er noch einmal Mareike wollte. Es gab die Abmachung. Niemals die gleiche hintereinander. Er meinte Veronika.
    Als sie den Schlüssel im Schloss hörte, blieb ihr Herz für einen Moment stehen. Ein benommenes Gefühl machte sich in ihrbreit, und sie wünschte sich, jetzt in diesem Moment zu sterben. Oder zumindest ohnmächtig zu werden.
    Aber ihr Körper erwies ihr den Gefallen nicht. So klein und zierlich er war, in ihm steckten Sprung- und Kampfausbildung der Fallschirmjäger. Es brauchte mehr als nur Angst, um ihr das Bewusstsein zu nehmen. Sie schrie, als vier starke Arme nach ihr griffen und sie vom Bett zerrten.
    Kalte Handschellen verschlossen sich hinter ihrem Rücken um ihre Handgelenke. »Komm schon, mach’s dir nicht schwerer, als es sein muss!«, murmelte eine weiche Männerstimme hinter ihr. Für einen Moment sah sie das vorfreudige, grinsende Gesicht des Jungen, der sie ausgewählt hatte, schweißüberströmt, eine Speckrolle im Nacken, glatzköpfig wie sie. Die Vorstellung, dass

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