Schattensturm
den Fensterbänken zu beiden Seiten der Haustür.
Die Frau nahm ihnen die Regenmäntel ab und brachte sie davon, während Keelin eilig aus ihren Stiefeln schlüpfte. Sie waren dreckig und nass, und unter ihr hatte sich bereits eine Pfütze aus schmutzigem Wasser gebildet. Sie durchsuchte die Hosentaschen ihrer Jeans nach einem Taschentuch, mit dem sie die Pfütze wegwischen konnte, doch sie fand nichts, was sie hätte benutzen können. Brynndrech beobachtete sie unsicher. Er war in der Innenwelt geboren, seine wenigen Erfahrungen mit der Außenwelt wareneindeutig
nicht
dazu geeignet, ihm hier in diesem biederen Hausflur weiterzuhelfen.
Als die Frau wieder zurückkam, trug sie allen Ernstes zwei Paar Filzpantoffeln bei sich. Brynndrechs Miene war göttlich, als sie ihm eines davon reichte. Entgeistert zog er hastig seine Stiefel aus und hätte dabei beinahe einen der Blumentöpfe vom Fensterbrett gestoßen, wenn Keelin ihn nicht rechtzeitig gewarnt hätte. Trotz seiner sonnenverbrannten Gesichtsfarbe sah man es ihm deutlich an, dass er rot angelaufen war, als er endlich die Pantoffeln an den Füßen trug. Die Frau hatte Keelin mittlerweile ein Handtuch gereicht, mit dem sie ihr Gesicht und die frisch rasierte Glatze abtrocknen konnte.
»Wenn Sie mir bitte folgen würden«, erklärte die Frau, nachdem sich auch Brynndrech provisorisch abgetrocknet hatte.
In dem kurzen Gang stand ein Telefon auf einem Tisch, daneben lagen ein leerer Notizblock und ein Kugelschreiber. An den Wänden hingen mehrere ausgestopfte Hirschköpfe mitsamt ihren Geweihen sowie ein paar Schwarzweißfotografien von älteren Personen.
Sie wurden in ein großes Wohnzimmer geführt. Eine der Wände wurde vollständig von einer Schrankwand eingenommen, komplett mit Fernseher, Videorekorder und Hausbar. Eine andere Wand war mit mehreren Bücherregalen vollgestellt. Es gab eine gemütlich wirkende Sofagruppe, einen Ohrensessel mit einem Hocker für die Beine sowie einen Kamin, in dem ein Holzfeuer knackte. Auf dem Sessel saß ein Mann, etwa im gleichen Alter wie die Dame, mit grauem, seitlich gescheiteltem Haar, einer Pfeife im Mund und einer Zeitung in den Händen. Von der Decke hing eine kompliziert aussehende Lampe mit mehreren Birnen und beleuchtete den Raum. Es roch angenehm nach Holzrauch und Pfeifentabak.
»Willkommen in Callinish«, erklärte der Mann und erhob sich umständlich. Er legte die Pfeife an den Rand eines Aschenbechers und die Zeitung auf seinen Sessel. »Sie sind Keelin Urquhart und Brynndrech Mackenzie?« Er reichte ihnen die Hand, während ersich selbst vorstellte: »Mein Name ist Tiernan Sundby.« Er sprach reinstes Oxford-Englisch, ohne auch nur eine Spur des üblen Dialekts, der hier auf der Isle of Lewis herrschte.
»Sehr erfreut«, erwiderte Keelin.
Brynndrech nickte grummelig.
»Setzen Sie sich doch! Möchten Sie eine Tasse Tee trinken?«
»Gerne.« Der Kamin verbreitete zwar eine wohlige Wärme im Raum, doch Keelin fühlte sich noch immer halb erfroren. Sie zog einen Stuhl zum Kamin und setzte sich darauf. Brynndrech nahm ihr gegenüber auf dem Sofa Platz.
»Jennifer!«, rief Mr. Sundby in Richtung einer zweiten Tür. »Könnten wir Tee für unsere Gäste haben? Oh, und bring doch die blaue Zuckerdose mit!« Zu ihnen gewandt, fuhr er fort: »Wie war Ihre Reise?«
So führte er sie in ein belangloses Gespräch über ihre Flüge, das norwegische Wetter sowie den schottischen Busverkehr. Brynndrech hielt sich größtenteils heraus und sagte nur etwas, wenn ihn Mr. Sundby direkt ansprach.
Die Frau – Jennifer – betrat nach kurzem Anklopfen den Raum, ein Tablett mit drei dampfenden Tassen Tee und den nötigen Utensilien dazu in der Hand. Sie teilte sie aus und stellte anschließend noch Zuckerdose und Honigglas dazu. Keelin dankte ihr und verbrannte sich prompt die Zunge an ihrem Tee. Es war trotzdem ein angenehmes Gefühl, als sich die Wärme in ihrem Körper ausbreitete. Sie spürte Brynndrechs Blicke auf sich ruhen, der jede ihrer Bewegungen beobachtete und vorsichtig nachmachte. Der Waliser mochte zwar missgeboren und mehr als nur ein wenig schüchtern sein, doch er war nicht dumm. Er wusste, dass er sich auf völlig fremdem Terrain befand, und orientierte sich an ihr.
Auch Mr. Sundby nahm seine Tasse und trank einen Schluck, doch dann nahm er die zweite Zuckerdose vom Tablett und hielt sie vor seinen Mund. »Sag Cacumatt«, flüsterte er, »dass unsere Gäste da sind, sei doch bitte so gut!« Er benutzte
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